Historisches Dokument aufgetaucht

„Ein Wimmern und Schreien“

Willi Schmidt (92) hat den in Sütterlin geschriebenen Bericht seines Onkels mit seiner Schwiegertochter Patricia Schmidt in moderne Schrift übertragen. | Foto: Alex Blinten2021/02/Haimendorf-Willi-Schmidt.jpg

HAIMENDORF – 85 Jahre nach dem Absturz eines Fliegers vom Typ JU 52 taucht ein weiterer Augenzeugenbericht auf. An Bord der Maschine ist eine Selbstmörderin, die das Unglück überlebt und in München ihr Glück findet.

Patricia Schmidt hat beim Durchblättern alter Familienunterlagen ein Dokument von historischem Wert gefunden: einen Augenzeugenbericht vom Absturz einer JU 52 Verkehrsmaschine der Lufthansa im November 1936. Verfasser ist Georg Kalb, der Onkel ihres Schwiegervaters Willi Schmidt, mit dem sie gemeinsam die Schriftstücke von Sütterlin in moderne Schrift übertragen hat. Aus dem Bericht von Georg Kalb gehen Details hervor, die sich bislang noch in keinen anderen Berichten vom Unglück finden.

72 Jahre alt war der Haimendorfer Landwirt Georg Kalb, als die Junkers der Lufthansa mit 16 Menschen an Bord im November 1936 in den Waldhang unterhalb des Moritzberggipfels stürzte. Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, dass er unmittelbar nach dem Absturz zur Unglücksstelle geeilt war – wie viele andere Menschen aus den Moritzbergdörfern. „Mit fürchterlichem Krachen fiel das Flugzeug in eine tiefe Talmulde“, schreibt er und schildert in der Folge das Bild, das sich den zur Absturzstelle Geeilten bot. Zwei Insassen des Fliegers sind tot, der Pilot und ein Passagier. Zuerst bergen die Helfer die Leiche des Piloten aus einem Baum. „Dann die Tür aufsprengen und noch einen Toten und 14 Schwerverletzte herausnehmen, die alle auf einem Haufen darin liegen. Ein Wimmern und Schreien“, schreibt der Augenzeuge.

Pferde ziehen feststeckende Autos heraus

Vom Unglücksort bis zur Bergwirtschaft am Gipfel sind es hundert Meter den Berg hinauf. Es ist inzwischen Nacht geworden, es ist dunkel und es regnet. „Über 30 Mann machten eine Kette“, schreibt Georg Kalb, „unterdessen vier Mann mit einer Tragbahre, auf der ein Schwerverletzter lag.“ Nachdem der Bergwirt die Sanitätsstation und die Polizei informiert hatte, sammelten sich die Retter zunächst in Haimendorf, „über 30 Autos standen im Dorf“, erinnert sich Kalb, „es sah aus wie auf einer großen Baustelle bei Nacht“. Bis fünf Uhr morgens tragen die Helfer dann die Verletzten hinunter ins Dorf. Sanitätsautos bringen die Verunglückten in Krankenhäuser. Weil es ununterbrochen regnet, sind die nicht asphaltierten Straßen binnen kürzester Zeit so aufgeweicht, dass die Autos immer wieder stecken bleiben und von Pferden heraus gezogen werden müssen. Die ganze Nacht, schreibt Kalb, hilft die Bevölkerung der Moritzbergdörfer.

Georg Kalb (links mit seiner Frau Katharina) fertigte die Aufzeichnungen über den Flugzeugabsturz am Moritzberg im November 1936 an. Foto: Alex Blinten2021/02/Haimendorf-Bericht.jpg

Am Tag darauf kommt ein Auto der Lufthansa und ein Wagen mit Gauleiter Julius Streicher und dessen Stellvertreter Karl Holz. „Sie gingen mit dem Bürgermeister zur Unglücksstätte und dann wieder zurück zu unserem Feuerwehrhaus, wo die zwei Toten aufgebahrt lagen“, berichtet Kalb. Streicher stellt dann Fragen an die Vertreter der Lufthansa. Als Streicher, Holz und die Lufthansa-Leute später das Dorf verlassen, läuten die Kirchenglocken. Ein Leichenwagen aus München holt den Leichnam des Piloten ab. „Seit diesem Unglückstag wandern viele Menschen von Stadt und Land hinauf zur Unglücksstelle und viele Leute kommen oft von weit her“, beschreibt Kalb die Situation in den Tagen nach dem Absturz. Er beobachtet auch, wie Flugzeuge über dem Moritzberg kreisen, „an hellen Tagen drei bis zehn“, schreibt er. „Sie winken mit den Flügeln zur Unglücksstelle herab zum Zeichen der Trauer.

Filmreife Geschichte um eine Passagierin

Als Georg Kalb seine Aufzeichnungen über das Unglück anfertigte, wusste er nichts über die Passagiere. Einzige Frau unter den 14 Fluggästen war eine junge Berlinerin mit einer Pistole und einem fertigen Selbstmordplan im Gepäck – eine filmreife Geschichte, die für die todunglückliche Passagierin dann doch ein Happy End hat. Die Berlinerin ist unsterblich verliebt in einen jungen Mann aus München, eine Beziehung, die ihren Eltern überhaupt nicht passt und die ihr deshalb befehlen, sich von dem Münchner zu trennen. Woraufhin sich die verzweifelte Tochter in Berlin eine Pistole beschafft und sich per Flugzeug auf den Weg nach München macht, um sich gemeinsam mit ihrem Freund zu erschießen. Als ihre Eltern dann erfahren, dass sie den Absturz am Moritzberg überlebt hat, geben sie der Verbindung mit dem jungen Münchner ihre Zustimmung, das Paar heiratet in der bayerischen Landeshauptstadt und lebt in den kommenden Jahren dort. Das berichtet Friedrich Kohl in seinen „Streifzügen durch das Leinburger Land“.

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Berliner Zeitungen hatten ihre Leser im November 1936 ausführlich über das Unglück in der Nähe von Nürnberg informiert und darin die Selbstmordgeschichte kolportiert. Nürnberg war für die Linienmaschine der Lufthansa damals kein Zwischenstopp. Das Flugzeug sollte außerplanmäßig in der Frankenmetropole landen, weil der Nürnberger Polizeipräsident Benno Martin an Bord war und in der Noris abgesetzt werden sollte. Schlechtes Wetter und Nebel zwangen den Piloten dann, Wendeschleifen zu fliegen bis zum Moritzberg. Die Junkers streifte dort mit der Tragfläche einen Baum und stürzte ab. Dabei starben zunächst der Pilot und ein Passagier, zwei weitere Fluggäste erlagen später ihren schweren Verletzungen. Polizeipräsident und SS-Untersturmführer Martin überlebte das Unglück. Martin war mitverantwortlich für die spätere Deportation fränkischer Juden in die Vernichtungslager.

„Es bleibt ein Rästel“

Für Patricia Schmidt sind die aufbewahrten Berichte über das Unglück von 1936 wie ein Guckkasten in die Vergangenheit. Die Aufzeichnungen erzählen nicht nur von dem schrecklichen Unglück, sondern auch von der Hilfe und der Zusammenarbeit der Menschen am Moritzberg, wie sie mit ihren Pferden die stecken gebliebenen Fahrzeuge wieder flott machten, wie sie sich den Berg hinauf kämpften, um die Verwundeten zu retten und wie sie die Toten im Feuerwehrhaus aufbahrten. Willi Schmidt, Patricia Schmidts 92-jähriger Schwiegervater, war acht Jahre alt, als der Flieger abstürzte. An der Unfallstelle war er damals nicht, seine Erinnerung macht sich fest an der Menge der SA-Männer, die in Haimendorf mit Fackeln Spalier standen, als die Gauleiter Streicher und Holz vorfuhren.
Willi Schmidts Onkel Georg Kalb stellt am Ende seines Berichts über das Unglück die Frage, ob es Gott so gewollt hat. „Es bleibt ein Rätsel“, schreibt der alte Haimendorfer.

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