LILLINGHOF — Seit vor zwei Monaten beim Flugtag in Lillinghof ein Doppeldecker ins Publikum gerast ist und einen Menschen getötet hat, können die Mitglieder des Segelflugclubs Lauf ihr Hobby kaum mehr unbeschwert genießen. Nun sucht der Verein nach einem Weg zurück in die Normalität – eine Gratwanderung.Nach dem Unfall haben sie ein Holzkreuz aufgestellt. Zuerst stand es mitten auf der Startbahn, schließlich hatte niemand recht Lust zum Fliegen. Dann aber, nach drei Wochen, stiegen die Segelflugzeuge wieder in die Luft. Das Kreuz brauchte einen neuen Platz. Direkt an der Einfahrt zu dem kleinen Flugplatz befindet es sich nun. Jeder Besucher sieht es sofort, wenn er mit seinem Auto am Hangar vorbei zum Parkplatz fährt. Irgendwie passt das Bild: Lillinghof, bei diesem Namen denken die Menschen seit dem ersten Sonntag im September zuerst an das Flugunglück.
Weil ein Doppeldecker, eine rund 70 Jahre alte „Tiger Moth“, beim Start während des alljährlichen Flugtags in die Zuschauermenge abdriftete, starb eine 46-jährige Lauferin, die Frau des Stadtrats Martin Seitz. 38 Menschen wurden verletzt. Viele zogen sich bloß Schrammen zu, andere wurden mit gebrochenen Knochen in die Krankenhäuser gebracht. Sie leiden noch heute unter den Folgen, finden nur mit Mühe zurück in den Alltag.
Nicht nur das Leben der Opfer hat jener Tag verändert. Auch die Flieger müssen mit dem zurechtkommen, was geschehen ist. „Es gibt welche, die seitdem nicht mehr auf den Platz gewesen sind“, sagt Mathias Sperl. Der Vorsitzende des Segelflugclubs Lauf steht in der kleinen Werkstatt des Vereins. Es regnet fast waagerecht gegen die Scheiben; die Novemberkälte ist hereingekrochen. Zeit, die zehn Flugzeuge, die der Verein besitzt, zu warten. Erst im Frühjahr beginnt die Saison in Lillinghof wieder.
Ein halbes Dutzend von Sperls Mitstreitern schraubt in dem von Neonröhren erleuchteten Raum, in dem kaum Platz ist, weil darin ein ganzes Segelflugzeug steht. Die Flügel sind vom Rumpf abgetrennt, die Anzeigen im Cockpit zerlegt. Nur der Vereinsvorsitzende, schwarze Fleecejacke zum Pferdeschwanz, hat das Werkzeug aus der Hand gelegt. „Wir verbringen viele Wochenenden auf dem Flugplatz“, sagt der 50-Jährige. Und fügt hinzu: „Das war immer der Ort für unser fröhliches Hobby“.
Vor dem Unglück und nach dem Unglück: für den Verein mit seinen rund hundert Mitgliedern liegen Welten dazwischen. Richtig unbeschwert ist in Lillinghof im Augenblick niemand, es gibt zu viele ungeklärte Fragen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nicht nur gegen den Piloten und zwei Mitarbeiter des Luftamtes, sondern auch gegen ein Vereinsmitglied, das beim Flugtag als Leiter der Veranstaltung fungierte. Der Abstand der startenden Maschine zum Publikum soll zu gering gewesen sein, die Rede ist von wenigen Metern.
Sperl – von Beruf ist er Zahnarzt – ist die Ratlosigkeit angesichts der Maschinerie, die nach dem Flugtag angelaufen ist, anzumerken. „Ich habe ja keine Erfahrung mit solchen Dingen“, sagt er und blickt durch den Raum. Gerne hätte er dem Mann der getöteten Frau und den fünf Schwerverletzten geschrieben, aber sein Anwalt hat ihm klar davon abgeraten. „Meine Aufgabe ist es, Schaden vom Verein abzuwenden“, schiebt der 50-Jährige hinterher. Seine Tränen kann er nur mit Mühe zurückhalten. Auch mit Journalisten zu sprechen, wie es Sperl und andere Vereinsmitglieder in den Tagen nach dem Flugunfall oft getan haben, ist in dieser Situation nicht einfach – „nur will ich nicht das Gefühl aufkommen lassen, wir würden uns verschanzen“.
Nach und nach leert sich die Werkstatt, die Männer verschwinden in den Regen. Jetzt setzen sie sich am anderen Ende des Flugplatzes in einer kleinen Hütte auf ein Bier zusammen. Der Zusammenhalt unter den Fliegern ist stets groß gewesen. Daran hat sich durch das Geschehene nichts geändert. Im Verein haben sie in den vergangenen beiden Monaten viel geredet, immer und immer wieder durchgekaut, was passiert ist.
Bei dem zerlegten Segelflugzeug bleibt ein fröstelnder Vereinsvorsitzender, der trotz aller Ungewissheit versucht, in die Zukunft zu blicken. Für ihn hat das Fliegen etwas Beruhigendes, es hat ihm geholfen, mit der Trauer umzugehen. „Ich war unheimlich froh, wieder in der Luft zu sein“, sagt er über die erste Runde nach dem Unglück. Deshalb denkt er inzwischen darüber nach, eines Tages wieder einen Flugtag zu veranstalten. Aber weil Sperl weiß, dass Außenstehende seine Begeisterung schwer nachvollziehen können, lässt er den Gedanken nur einen kurzen Moment stehen. Er sagt dann: „Wir werden etwas in Richtung eines Hallenfestes machen“. Den Jahrestag einfach verstreichen zu lassen, das würde den „sinnlosen Unfall“ erst recht unerträglich machen, findet der 50-Jährige.
Fliegen ist ein Mannschaftssport. So wie die Vereinsmitglieder in den vergangenen dreißig Jahren den Flugtag gemeinsam organisiert haben, so suchen sie jetzt gemeinsam nach einem Weg zurück in die Normalität. Vielleicht denken die Menschen in einiger Zeit ja nicht mehr zuerst an das Flugunglück, wenn von Lillinghof die Rede ist? Das könnte wie mit dem Holzkreuz funktionieren, das bald durch einen Findling ersetzt werden soll: Nur Eingeweihte werden auf den ersten Blick wissen, worum es sich dabei handelt – aber wer einen Platz zum Trauern sucht, der wird den Stein finden.