Es ist so gut, dass sie überlebt hat

Wer die attraktive Sengül Obinger mit der besonderen Ausstrahlung bei ihrer Lesung im Sparkassensaal erlebte, mag kaum glauben, was die Frau schon in frühen Jahren erleben musste, bis sie sich emanzipieren konnte. Foto: Spandler
Wer die attraktive Sengül Obinger mit der besonderen Ausstrahlung bei ihrer Lesung im Sparkassensaal erlebte, mag kaum glauben, was die Frau schon in frühen Jahren erleben musste, bis sie sich emanzipieren konnte. Foto: Spandler2011/12/senguel_New_1323439501.jpg

ALTDORF – Mit 18 begann das Leben in der Hölle, 20 Jahre später hat sie es geschafft: Die türkischstämmige Sengül Obinger lebt in einer glücklichen Familie, macht beruflich Karriere und engagiert sich für bessere Chancen zur Integration von benachteiligten Jugendlichen, besonders mit Migrationshintergrund. Um ihre entsetzlichen Erfahrungen als Jugendliche und junge Erwachsene zu verarbeiten, hat sie nun das Buch „Löwinnenherz“ geschrieben, in dem ihr bisheriges Leben beschreibt und Menschen, die in ähnlichen, scheinbar aussichtslosen Situationen sind, Mut machen will, für Freiheit und Selbstbestimmung zu kämpfen. Man muss immer nach vorne schauen“, sagt sie, denn nur das hat ihr geholfen. Auf Einladung der VHS Schwarzachtal, der Buchhandlung Lilliput und der Sparkasse kam sie zu einer Lesung nach Altdorf.

Winkelhaids Bürgermeister Michael Schmidt, der erste Vorsitzende der VHS Schwarzachtal, und Ulrike Scheske, die Leiterin der Institution, begrüßten die Autorin und die Ehrengäste und wiesen darauf hin, dass dieser Abend zugleich die Finissage der Ausstellung „Zwei Welten“ sei.

Die attraktive Sengül Obinger tritt mit Charisma und Selbstbewusstseinauf und man kann sich kaum vorstellen, dass diese Frau bis vor 14 Jahren immer wieder unterdrückt und misshandelt wurde, keinerlei Rechte besaß und einen Mordanschlag ihres damaligen Ehemanns nur knapp überlebt.

Bevor sie mit dem Lesen von Schlüsseltextstellen ihres Buches und Lebens beginnt, schildert sie ihren persönlichen Hintergrund: Sie ist 38, zum zweiten Mal verheiratet, dieses Mal glücklich, hat zwei Kinder, ist Spezialistin für Steuerfragen, will nächstes Jahr die Prüfung zur Steuerberaterin machen und danach Jura studieren. Doch das war ihr nicht in die Wiege gelegt. Als Tochter türkischer Eltern wurde sie in Schnaittach geboren und war bereits als Kind viel krank. Die Beziehung zu den Eltern war problematisch, beide waren streng und in aus Sengüls Sicht altmodischen und nicht nachvollziehbaren Erziehungsvorstellungen verhaftet. Sie durfte nicht mit Freundinnen weggehen, nicht aufs Gymnasium, obwohl sie das Zeug dazu gehabt hätte, nicht in den Schwimmunterricht, sondern sollte sich auf ein Leben als rechtlose Ehefrau, die sich lediglich um Haushalt und Kinder kümmert, vorbereiten. Versuchte sie, diese engen Ketten zu lockern, wurde sie von der Mutter verprügelt.

Aktentasche als Symbol

Das Kapitel über eine besondere Erfahrung, die ihr wohl bei der Erkämpfung ihrer Rechte stets geholfen hat, liest sie dem interessierten Publikum vor: Als ihr Vater wieder einmal wegen einer Schlägerei vor Gericht steht und sie als Kind – wie schon öfter – zwischen ihm und dem deutschen Verteidiger dolmetschen muss, erlebt sie den Auftritt einer Anwältin. Die ist schön, klug und selbstbewusst – so ziemlich das Gegenteil von Sengül zu jener Zeit. Das Mädchen ist fasziniert von jener Frau mit Aktentasche und Hosenanzug und beschließt, eines Tages so zu werden wie sie. Seit diesem Tag ist die Aktentasche das Symbol ihrer Befreiung aus der Bevormundung von Eltern und Ehemann und steht für eine erfolgreiche Integration in die Welt, in der sie lebt.

Doch bevor es soweit ist, soll sie noch einige Horror-Jahre durchleben.

Mit 17 erfährt sie, dass man bereits einen Ehemann für sie ausgewählt hat, mit 18 wird sie verheiratet. Der Mann lebt in der Türkei und bereits vor der Hochzeit kommt es zur Katastrophe, als sie mit ihrem Zukünftigen spazieren geht und eine unbedachte Bemerkung über einen Jogger macht. Refik, ihr Bräutigam schlägt sie deshalb, außer sich vor Zorn, weil sie sich seiner Ansicht nach unziemlich verhalten hat. Solche heftigen Schläge prägen ihre fünfjährige Ehe. Alle zwei bis drei Tage wird sie verprügelt, mehrmals bricht er ihr das Nasenbein. Was für sie ganz besonders schlimm ist: Bereits kurz nach der Geburt ihrer Tochter wird auch das Kind Opfer seiner Brutalität. Im Anschluss an die Lesung, als die beeindruckten Zuhörer Fragen stellen können, erzählt sie, dass ihre Tochter durch die Misshandlungen ihres ersten Mannes schon im Babyalter so scher verletzt wurde, dass sie dauerhafte Behinderungen davonträgt und nun in einem Heim leben muss.

Mit 21 ist sie so verzweifelt, dass sie sich beim Arbeitsamt um eine Ausbildungsstelle bewirbt, um durch Selbstständigkeit der ehelichen Hölle vielleicht entrinnen zu können. Die Aufnahmeprüfungen besteht sie wegen ihrer mangelhaften Schulbildung nicht, doch bekommt sie eine Chance sie zu wiederholen. Nachts, wenn der Ehemann schläft, lernt sie heimlich und besteht schließlich die Tests. Vier Wochen später hat sie eine Steuerkanzlei gefunden, wo sie sich sehr schnell bewährt. Ihr Mann wird jedoch immer brutaler, will einerseits verhindern, dass sie arbeitet, andererseits ist er aber auf das Geld wegen seiner Schulden angewiesen. Während dieser schweren Zeit klammert sie sich immer wieder zum Trost und um sich das Durchhalten zu ermöglichen, an die Vorstellung jener Frau mit der Aktentasche, das Symbol ihres zukünftigen Lebens in Selbstbestimmung.

Kind aus Rache verprügelt

Ein weiteres Schlüsselerlebnis ist der Tag, an dem sie sich ihrem Mann widersetzt, der auf der Stelle mit ihr ins Bett will, während sie noch Arbeit für die Kanzlei zu erledigen hat. Aus Rache stürzt sich Refik auf das schlafende vierjährige Kind und verprügelt es. Da wird bei Sengül ein Schalter umgelegt. Sie stürzt sich auf ihren Mann und kämpft mit ihm, damit er das Kind in Frieden lässt. Ungeahnte Kräfte habe sie dabei mobilisiert und ihn beinahe mit einem Gürtel erdrosselt. Mit dem Kind verlässt sie die Wohnung für immer und geht am nächsten Tag zum Scheidungsanwalt. Wenig später taucht ihr Mann an ihrer Arbeitstelle auf und fordert sie auf mitzukommen. Aus Angst geht sie mit und wird noch auf der Straße von ihm schrecklich geschlagen. Nur das Eingreifen ihres Chefs rettet sie. Ihr Mann kommt in Haft, wird aber sofort wieder freigelassen, eine Praxis der Polizei, die sie deutlich kritisiert.

Daraufhin fährt Refik in die Türkei, bespricht sich mit seine Familie, die den Tod von Sengül beschließt. Er besorgt sich eine Waffe und kündigt den Mord an. Als sie deshalb bei der Polizei um Hilfe bittet, wird sie wieder nach Hause geschickt.

Am 7. August 1997 kommt ihr Mann mit der Waffe in das Haus ihrer Eltern, in dem sie nun lebt. Eine Eingebung und ungeheures Glück retten ihr Leben. Normalerweise telefoniert sie in ihrem Bereich imErdgeschoss, doch an diesem Tag geht sie zum Telefonieren in den ersten Stock zum Telefon ihrer Eltern, sie weiß bis heute nicht warum. Wäre sie im Untergeschoss geblieben, hätte er sie mühelos von der Tür aus erschießen können. Doch so hört sie ihn kommen, weiß, was ihr blüht, hört ihn die Treppe hochpoltern und kann dennoch nicht entwischen, denn alles läuft für sie wie in Zeitlupe ab, sie befindet sich in Schockstarre. Refik kommt hoch und feuert sein ganzes Magazin auf sie ab, nur drei Meter von ihr entfernt – und wie durch ein Wunder verfehlen alle acht Kugeln ihr Ziel. Der Täter glaubt, er habe sie erwischt, geht in seine Wohnung und bringt sich dort um.

Als sie wieder zu sich kommt und mit ihrer Tochter über das Unfassbare spricht, beschließt sie, dass niemals mehr irgendjemand sie oder ihre Tochter schlägt.

Die Lebensphase, die sich anschließt, ist hart, aber mit Perspektive. Sie arbeitet sich hoch, zahlt die Schulden ihres Mannes ab, findet eine Wohnung und macht eine weitere Ausbildung, bevor sie ihren Traummann kennen lernt und erneut eine Familie gründet.

In der anschließenden Diskussion nach Fragen aus dem Publikum wird deutlich, dass sie das Buch nicht nur geschrieben hat, um ihre unglaubliche Geschichte zu dokumentieren, sondern vor allem, um zu beweisen, dass es nie zu spät ist, mit Mut und Fleiß um ein eigenständiges, selbst bestimmtes Leben zu kämpfen. Und ganz wichtig dabei ist Bildung und immer wieder Bildung.

Hier widerspricht sie entschieden den Thesen von Thilo Sarrazin, den sie ohnehin in vielfacher Weise widerlegt. Der ging in seinem umstrittenen Buch ja davon aus, dass man es nicht mehr schaffen kann, wenn man bis 18 keine Ausbildung gemacht hat. Sie kann sich auch in Rage reden, wenn sie immer wieder Beispiele von unflexiblen Arge-Centern erfährt, wo Arbeitswillige keine Chance bekommen, weil sie keinen Abschluss haben. „Es darf nicht passieren, dass jemand aus formalen Gründen abgewiesen wird, der arbeiten und lernen will.“ Da ist das System in Deutschland viel zu stur und bürokratisch, findet sie. Ein Arbeitsloser kostet viel mehr als eine Umschulung oder zusätzliche Ausbildung. Außerdem stellt sie das gesamte Schicksal der Betroffenen in den Vordergrund, der vielleicht nur aus familiären Gründen keine Ausbildung mache konnte. Sie untestützt daher junge Menschen, geht mit ihnen zum Arbeitsamt, macht den jungen Leuten Mut und den Behörden Dampf. Und oft hat sie auf diese Weise helfen können. Viel Feedback hat sie in der kurzen Zeit seit der Veröffentlichung in diesem Jahr von Lesern und Leserinnen schon bekommen, und sie hört immer wieder diesen Satz: „Es ist gut, dass du überlebt hast.“

Bald türkische Version

Zahlreiche Fragen aus dem Publikum muss sie beantworten, etwa zum Verhältnis, das sie jetzt zu ihren Eltern hat, oder warum ihr Mann wohl so brutal geworden ist und ob es das Buch auch auf Türkisch gebe. Ein sehr distanziertes Verhältnis habe sie mittlerweile wieder zu ihrer Mutter, nachdem sie jahrelang keinen Kontakt hatte. Der Mann sei wohl aus verschiedenen Gründen so gewalttätig geworden.

Zum einen habe er als Kind erlebt, dass der Vater die Mutter schlug und dies wohl als unbewusstes Erbe fortgesetzt. Zum anderen war er aber auch auf eine gewisse Art eifersüchtig auf seine Frau, die ihm in intellektueller Hinsicht überlegen war. Sie glaubt, dass ein türkischer Verlag die Rechte erwirbt und nächstes Jahr mit einer türkischen Ausgabe ihres Buches zu rechnen ist.

Das Buch ist in einfacher Sprache geschrieben, denn es geht der Autorin nicht um literarische Höhenflüge, sondern um die Information, um das, was sie zu sagen hat. Und dabei kommt sie immer wieder zum Thema Bildung und auch Disziplin. Es ist nie zu spät, könnte ihr Credo lauten, auch wenn es aussichtlos scheint. Sie formuliert es abschließend ähnlich: „Jeder Mensch ist in der Lage zu lernen.“ Und nur so gibt es Rettung.

Das Buch ist heuer im Herder-Verlag erschienen.

GISA SPANDLER

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