ALTDORF – Die Themen des diesjährigen Altdorfer Poetry Slams sind so unterschiedlich wie ihre Dichter gewesen. Das Interesse an dem Wettstreit war so groß, dass die letzten Zuschauer nur noch auf an den Rand geschobenen Tischen und Bänken im Betsaal des Wichernhauses Platz fanden. Als Moderator leitete der fränkische Poetry Slam-Meister Michael Jakob durch den Abend, der anders ausging als erwartet.
„Ey, ich hab mich nicht breitbeinig gebückt vor Sie hingestellt und Sie gezwungen mir beim Menstruieren zuzuschauen!“, schreit Lara Ermer wutentbrannt einem imaginären älteren Mann ins Gesicht. Das Publikum erstarrt. Sie räuspert sich, lächelt mädchenhaft und sagt entschuldigend mit hoch gezogenen Schultern: „Naja, ist wirklich so passiert.“
Der Herr hätte sich damals hinter ihr an der Kasse lauthals darüber beschwert, wie sie die Frechheit haben könne, am helllichten Tag so etwas Frivoles, Abartiges wie Tampons zu kaufen. Ermer belebt die Szene gekonnt wieder. Sie ist eine von drei Finalisten des diesjährigen Altdorfer Poetry Slams. Ihre Texte reimen sich, wie auch die vieler ihrer Mitstreiter, nicht. Dies ist nicht nötig bei dem modernen Dichterwettstreit.
Thomas Geilhardt von den Altdorfer Stadtwerken freut sich, als Schirmherr des Poetry Slams diesen als „wunderschöne, interaktive Format erlebter Kunst“ zu eröffnen. Die Idee des Bühnenformats ist bestechend einfach. Jeder, der eigene Texte schreibt und sich rechtzeitig anmeldet, darf in maximal sieben Minuten den Zuschauern sein Gedicht vortragen. Ablesen ist erlaubt, andere Hilfsmittel nicht. In Runde eins wählen die Zuschauer die drei besten Poeten aus, die in Runde zwei ein weiteres Gedicht präsentieren. Aus diesen drei Finalisten kürt das Publikum den Sieger. Einzige Regel für die Zuschauer: „Respect the poet.“ Ausbuhen ist verboten.
Von Apocalypse bis Vaterliebe
Michael Jakob, seines Zeichens zweifacher fränkischer Poetry Slam-Meister, führt als Moderator durch den Abend und gibt selbst Kostproben aus seinem Werk. Die Themen sind abwechslungsreich und gut gewählt. Eine Mischung aus scharfem Witz und nachdenklicher Ernsthaftigkeit. Der erste Kandidat ist Micha el Goere aus Essen. Er wiegt Sicherheit gegen Freiheit ab und kommt zu dem Ergebnis: „Ich brauch kein Haus aus Stein, aus Wind und Wolken soll‘s erbaut sein.“ Slam-Premiere feiert die Nürnbergerin Alexandra Alter. In ihrem ökologisch und sozialkritischen Gedicht ruft sie zu mehr Verantwortungsbewusstsein auf. „Fangen wir gemeinsam an, unsere Welt zu retten“, fordert sie vom Publikum.
Ingo Winter aus Lauf schlägt sanftere Töne an und erzählt von Ehrlichkeit, Vergebung und Vaterliebe. Im Beitrag des Münchners Bert Uschner ziehen die Apokalyptischen Reiter durch die Lande und stellen bei der Betrachtung der Welt fest, die Menschen brauchen sie nicht. Sie sind selbst auf dem besten Wege, sich durch Gier, Krieg und Gleichgültigkeit ins Verderben zu stürzen: „Apokalypse läuft bei denen.“ Steven aus Erlangen nimmt in seinem Gedicht „Kinderschokolade“ mit viel Witz die Ersatzreligion Ernährung auf die Schippe.
Das erst hoch gelobte Superfood Avocado entpuppe sich wegen seiner Verletzungsgefahr beim Entkernen als „Jack the Ripper der Nahrungsmittel“. Er kommt zu dem Schluss: „Man kann ja gar nichts mehr essen.“ Die einfache Lösung, ganz nach dem Motto „Du bist, was Du isst“ – Kannibalismus. „Und wer das nächste Mal Kinderschokolade kauft, der weiß was drin ist.“

Kuh mehr wert als ein Kind?
Nachdem die letzten Gäste zu Europes „The Final Countdown“ nach der Pause wieder in den schwülwarmen Saal gefunden haben, richtet sich Moderator Michael Jakob mit einem eigenen politisch scharfen Beitrag gegen Überwachungsstaat, Fremdenfeindlichkeit und das neu verabschiedete Polizeiaufgabengesetz. Der Titel: „Verstehen Sie Spaß?“ Ein Heimat-Minister, der glaube, dass Heimat das Ding zwischen Alpen und Donau sei, könne ja schließlich nur als Witz gemeint sein, oder? Das Gedicht ist ein leidenschaftlicher Aufruf zu mehr Beteiligung am öffentlichen Leben: „Straßen sind dazu da, um Meinungen zu sagen. Wir sind das Volk und nicht eure Statisten.“ Und nein, er verstehe keinen Spaß mehr, wenn eine europäische Kuh acht mal mehr wert sein soll, als ein afrikanisches Kind.
Heide Roser aus Nürnberg schließt mit einem berührenden und sprachlich brillanten Poem zum Thema Freundschaft und Verstehen an, der ganz ohne Klamauk auskommt. Lara Ermer bildet den Schluss mit einem Gedicht über Gerontophobie, der Angst vor alten Menschen und davor, selbst einer zu werden. Angelehnt an ein Erlebnis, das die Fürtherin bei einer versehentlich besuchten Beckenbodengymnastik-Stunde hatte, ermutigt sie zum Schluss die Zuschauer: „Wenn Ihnen dieser Text gefallen hat, sind Sie herzlich eingeladen, mit den Schamlippen zu klatschen.“
„Üble Hippie-Scheiße“
Ihr mutiger Vortrag wird belohnt. Die Publikumsjury, die ironischerweise mit einem Durchschnittsalter von etwa 45 Jahren deutlich älter ist, als bei Poetry Slams üblich, wählt sie prompt zur Favoritin des Abends und ins Finale. Mit ihr in Runde zwei stehen Bert Uschner und Steven. Elmers zweites provokant-emanzipatorisches Gedicht „Erdbeerwoche“ trifft den Nerv der Zeit. Mit bildhafter Sprache wehrt sie sich ausdruckstark gegen die gleichzeitige Verniedlichung und Verteufelung der weiblichen Periode. „Es ist verständlich, dass Nicht-Menstruierende das vielleicht nicht nachvollziehen können, aber schwerer machen müsst ihr‘s uns auch nicht“, schließt sie und verbeugt sich als letzte Vortragende unter anerkennendem Applaus.
Es folgt eine Überraschung. Das Publikum kann sich nicht auf einen besten Vortrag einigen. Es bleibt unentschieden zwischen Ermer und Steven, der in seinem zweiten Gedicht das Konzept von Erfolg hinterfragt. Der diesjährige Altdorfer Poetry Slam hat zwei Sieger. Um mit Michael Jakob zu sprechen: „So endet der Abend also in richtig schön übler Hippie-Scheiße.“