30 Minuten mit der HZ

Vittore Bocchetta über Mut und Menschlichkeit

100 Jahre und kein bisschen leise: Vittore Bocchetta mit der Zeichnung einer Hersbrucker Schülerin in der Hand. | Foto: S. Mastrosimone2019/08/IMG_2964-e1565876252534.jpeg

HERSBRUCKER SCHWEIZ – Endlich Ferien. Endlich Zeit für sich selbst, für die Familie, für Freunde. Auch wir in der HZ-Redaktion nehmen uns jetzt immer mal wieder eine kleine Auszeit und tun das, was wir am liebsten machen: mit Leuten ins Gespräch kommen und uns ihre Geschichte erzählen lassen. Heute: 30 Minuten mit Vittore Bocchetta aus Verona. Der heute 100-Jährige gehört zu den Überlebenden des KZ Hersbruck.

Sie haben im KZ Hersbruck Schreckliches erleiden müssen. Doch heute sind Sie den Hersbruckern in Freundschaft verbunden. Was schätzen Sie an den Menschen hier?
Vittore Bocchetta: Mir gefällt, dass das Gedenken an das KZ heute in Hersbruck gepflegt und entwickelt wird, damit sich nicht wiederholt, was ich erleiden musste.

Sie sind 100 Jahre alt. Wie geht’s Ihnen aktuell? Wie stehen Sie den heißen Sommer durch?
Ich will mich nicht beklagen, es könnte schlimmer sein. Den heißen Sommer fühlt mein 100-jähriger Körper eigentlich nicht mehr.
Trotz Ihres Alters sind Sie kein bisschen leise geworden, wenn es darum geht, Ihre Meinung zu aktuellen politischen Ereignissen kundzutun. Zuletzt haben Sie sich stark für die deutsche Kapitänin Carola Rackete eingesetzt.

Warum?
Ich will bewusst mein Leben bis zum Ende leben. Genauso, wie es auch mein lieber Freund Guglielmo Bravo einst getan hat, trotz der schrecklichen und unmenschlichen Lebensbedingungen im KZ. Auf diese Weise bleibt man fähig, Unrecht zu erkennen und zu benennen, auch gegenüber seinem Unterdrücker und Folterer. Wir haben bis zum Ende das Recht, Unrecht nicht zu akzeptieren. Und heute heißt dieses Unrecht: „unmenschliches Verhalten gegen Flüchtlinge“. Carola Rackete hat gegen solches Unrecht mutig und erfolgreich rebelliert. Sie hat das Leben vieler Menschen gerettet. Mein „Bravo“ an Carola.

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Sind Sie eigentlich noch künstlerisch tätig oder fällt Ihnen das Malen mittlerweile zu schwer?
Ich male gelegentlich immer noch. Die Inspiration kann mich immer besuchen. Dafür steht immer eine leere Leinwand parat.

Im November haben Sie Geburtstag. Was wünschen Sie sich zum 101.?
Lassen Sie dieses „Sie“! Über Glückwünsche zu meinem Geburtstag freue ich mich natürlich. Genauso aber würde es mich freuen, wenn mehr an Guglielmo Bravo erinnert würde, der immer noch zu wenig bekannt und geschätzt wird. Und ich würde mir wünschen, dass meine Werke, die ich der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg geschenkt habe, so viel wie möglich in Ausstellungen zu sehen sind, ob nun in München, Nürnberg, Regensburg oder in welcher Stadt auch immer.

Wie sieht’s mit einer großen Geburtstagstorte aus?
Oh. In diesem Fall würde ich mir einen großen Scherz erlauben und die Torte in viele Stücke teilen und sie den Leuten einfach ins Gesicht werfen. Wie in den alten Stummfilmen.

Sie haben schon oft Botschaften an die Hersbrucker, insbesondere an die Jugendlichen, gerichtet. Mit welchem Satz möchten Sie den Hersbruckern einmal in Erinnerung bleiben?
Mit nur einem Satz? Vielleicht mit diesem: Wenn man sich entscheidet, seinem Gegenüber entgegenzukommen, kann man auch unter den schlimmsten Bedingungen (wie damals im KZ oder heute im Mittelmeer) ein Stückchen Menschlichkeit zurückerobern.

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