HERSBRUCK – Helga Münzenberg weiß, welche Heilkräfte Klettern haben kann, nutzt sie dessen therapeutische Effekte doch seit längerem in ihrer täglichen Arbeit mit Schlaganfallpatienten oder Menschen, die an Multipler Sklerose erkrankt sind. Wie gut der erstmals vom DAV Hersbruck angebotene Schnupperkurs für Menschen mit Handicap ankam, überraschte aber auch sie.
„Toll, was wir heute alles geschafft haben, das hätte ich nie im Leben gedacht“, sagt Helga Münzenberg nach dem wie im Flug vergangenen Schnupperklettern für geistig und psychisch behinderte Menschen aus dem Haus Weiher und dem Betreuten Wohnen der Caritas. Der Kurs lief kaum eine Stunde, als schon der erste Teilnehmer die über 14 Meter hohe, senkrechte Wand hinaufkraxelte, als täte er den ganzen Tag lang nichts anderes.
Nicht nur die freiberufliche Klettertherapeutin, die beim DAV Hersbruck für das Klettern für Menschen mit Handicap zuständig ist und die spezielle C-Trainerausbildung beim Dachverband absolviert hat, rieb sich verwundert die Augen, als Florian scheinbar spielerisch eine Kletteroute des Schwierigkeitsgrads 3 gemeistert hatte. Auch Susanne Janich vom Fachdienst des Haus’ Weiher und Anna Frank von der Caritas waren völlig verblüfft. Wissen die beiden doch nur zu genau, was der junge, geistig behinderte Mann gerade geleistet hatte.
Große Überwindung
Allein schon sich in einer völlig unbekannten Umgebung aufzuhalten, koste viele ihrer Schützlinge große Überwindung, sagt Susanne Janich. Auch Helga Münzenberg und Kletterbetreuerin Gundi Meindl haben die sieben jungen Frauen und Männer nie zuvor gesehen, müssen zu ihnen erst einmal Vertrauen fassen. Und auch Klettergurt und Karabiner hat außer Florian, der schon landkreisweite Handicap-Wettbewerbe gewonnen hat, bislang noch keiner in Händen gehalten.
Und doch „fremdelt“ niemand mit den ungewohnten Gegenständen – selbst die zunächst in sich gekehrte Resi steigt nach kurzem Zögern und ein paar einfühlsamen Worten von Helga Münzenberg in die Beinschlaufen des Gurts und zieht ihn sich auf die Hüfte. „Nicht so eng ziehen“, sagt die leidenschaftliche Klettertherapeutin, „nur so, dass eure Handfläche noch zwischen Körper und Gurt passt.“
An der leicht abgeschrägten Übungswand klicken alle wie selbstverständlich ihren Karabiner in den sogenannten Achterknoten am Sicherungsseil ein, legen ihre Finger auf die eingeschraubten Griffe und klettern die sieben, acht Meter hinauf. Oben angekommen, folgt der schwierigere Teil – jetzt sollen die jungen Männer und Frauen ihre Hände von der Wand ans Seil legen, sich mit dem Oberkörper nach hinten fallen lassen und die Wand langsam wieder nach unten laufen.
Eigene Grenzen erfahren
Selbst Resi legt ihre anfängliche Scheu ab, steigt ein kleines Stück hoch und lässt sich einen halben Meter über dem Hallenboden ins von Helga Münzenberg gesicherte Seil fallen. „Das ist der große Vorteil des Kletterns“, sagt die Trainerin, „jeder setzt seine eigenen Grenzen, geht so weit, wie er eben kann.“ Und lernt dabei sich und seinen Körper neu kennen, „findet sich selbst“, wie es die erfahrene Trainerin ausdrückt.
Klettern, bestätigen Fachleute, sei die „klassische Desensibilisierung“ – statt Ängste zu vermeiden (und sie damit weiter zu verstärken), setzen Therapeuten dabei auf die bewusste Konfrontation mit den Dingen, vor denen sich ihre Patienten fürchten oder die sie glauben, nicht zu können.
Aufmerksam beobachtet, sollen sie dabei Schritt für Schritt ihre eigenen Grenzen ausloten und verschieben – eine Kletterwand, an der sie sich die Route Griff um Griff erarbeiten müssen, dient dabei als perfekte „Spielwiese“ und macht das Klettern auch wegen seines unmittelbaren Erlebens „zur perfekten therapeutischen Sportart“, sagt zum Beispiel der landesweit bekannte Psychotherapeut Thomas Lukowski aus München, der seit vielen Jahren eng mit der DAV-Sektion in Simbach zusammenarbeitet.
Körper drückt Resettaste
Zudem schult Klettern Körpergefühl, Motorik und Koordination gleichermaßen, das Selbstwertgefühl steigt. Mitunter drückt der Körper des Patienten beim Klettern quasi die Resettaste und fällt in als Kind gelernte, „gesunde“ Bewegungsmuster zurück, hat Münzenberg beobachtet. So auch an diesem Tag: Wegen einer Zwangsstörung knickt einer Teilnehmerin beim Gehen immer ein Bein unkontrolliert weg, in der Wand ist davon nichts zu sehen. Genau dieses Phänomen hilft der Klettertherapeutin beispielsweise bei ihrer Arbeit mit Schlaganfallpatienten, weil sie so das „gesunde“ Bewegungsmuster gezielt fördern kann.
Ein weiteres Ziel des aus dem Erlös des „Markts der langen Gsichter“ der Hersbrucker Zeitung mitfinanzierten Schnupperkurses – die Gruppe musste nur den Eintritt bezahlen – ist es, den Teilnehmern das nötige Rüstzeug (wie das Anlegen des Gurts oder das Binden des Achterknotens) mitzugeben, um selbstständig am montags von 17 bis 20 Uhr in der „Raiffeisenbank Kletterwelt DAV Hersbruck powered by Marmot“ stattfindenden Klettertreff teilnehmen zu können. Das wäre „gelebte Inklusion“, sagt Helga Münzenberg.
Ein weiterer, für alle offener Schnupperkurs für Menschen mit Handicap findet am Samstag, 13. April, um 10 Uhr statt. Näheres gibt’s hier (Stichwort: „Handicapklettern“).