ALTDORF – Als Kind verschlingt Ursula Muhr alles, das ihr an Geschriebenem in die Hände fällt. „Ich habe ziemlich wahllos alles gelesen, das ich in die Finger bekommen habe“, gibt die Altdorfer Autorin zu und lacht. Bis sie ihre eigenen Geschichten zu Papier bringt, vergehen noch gut zwei Jahrzehnte. Doch probieren musste sie es, wie sie sagt: „Es war ein tief verwurzelter Traum, schon immer.“
Muhr wird im historischen Herzen Altdorfs in eine Handwerkerfamilie geboren. Ihr Vater spricht gern von der „brotlosen Kunst“, von der er nichts hält. Die kleine Ursula genießt eine sehr freie Kindheit. Was sie davon erzählt, klingt wie Geschichten von Astrid Lindgren. Sie streift mit Freunden durch Wald und Feld, stibitzt Obst, baut Lager, besteht Mutproben, erlebt Abenteuer. „Von hier bis zum Dillberg, das war alles mein Spielplatz“, erinnert sie sich und macht auf dem Balkon ihrer Altdorfer Wohnung eine ausladende Armbewegung in Richtung Süden. Als Zehnjährige radelt sie am Kanal nach Neumarkt und zurück – ohne jemandem Bescheid zu sagen. „Irgendwie fanden meine Eltern das normal. Solange ich um sechs wieder zu Hause war, hat alles gepasst“, wundert sie sich heute ein wenig.
Das Brot rächt sich
Die Freiheit der Kindertage ist der 65-Jährigen ein nicht versiegender Quell der Inspiration. „Daraus schöpfe ich heute noch. Auch für meine Geschichten“, sagt die Altdorferin. Die Worte des Vaters im Ohr, traut sie sich als junge Frau nicht sofort, das Schreiben zum Beruf zu machen. „Was Gscheids“ soll her. Sie studiert Verwaltungswirtschaft, verdingt sich unter anderem als Berufsberaterin, Sekretärin und Team-Assistentin. Lange bleibt sie nie in einem Job. Das viel zitierte Brot rächt sich. Es steht zwar auf dem Tisch, doch es schmeckt nicht recht. Etwas fehlt Muhr im Leben.
1989, mit Mitte 30, wagt sie schließlich den Sprung und beginnt zu schreiben. Von Anfang an steht ihre Karriere als Schriftstellerin unter einem guten Stern. Bald erhält sie die erste Auszeichnungen für ihre Lyrik und Kinderbücher, viele weitere folgen. Mittlerweile hat die Altdorfer Autorin über 100 Bilderbücher, Krimis, Hörspiele, Theaterstücke und Kurztexte in verschiedenen Verlagen veröffentlicht. Anfangs noch nebenher, doch seit gut 15 Jahren lebt sie nun allein vom Schreiben.
Immer kindgerecht, nie kindisch
In ihren Kinderbüchern thematisiert Muhr Großes wie Freundschaft und Loyalität (Treffpunkt Teufelshöhle, 2018), den Umgang mit Trauer (Abschied von Oma, 2011), die Suche nach der eigenen Identität (Das Geheimnis der goldenen Grasmücke, 2015) oder die Verfolgung und Ausgrenzung im Dritten Reich, die die junge Protagonistin am eigenen Leib erfährt (Stellas Reise, 2016). Immer kindgerecht, nie kindisch, sind ihre Geschichten voller Witz und emotionaler wie moralischer Tiefe. In ihrer Erwachsenenliteratur reicht Muhrs Repertoire von Lyrik über Kriminalromane bis hin zur Satire. Ihr jüngster Roman (Auf dieser Kuhbleek bleib ich nicht, 2020) ist ihr persönlichster, eine Hommage an ihre Großmutter.
Leidenschaftlich gern gibt Muhr Lesungen. „90 Kinder eine Stunde lang in Schach halten, das kann ich richtig gut“, freut sie sich über ihr Talent. Und sie belässt es nicht beim Vorlesen, sie arbeitet sogar mit ihren kleinen Fans zusammen: Mit ihrem Story-Mailing-Projekt macht die 65-Jährige sie zu Co-Autoren. Im Ping-Pong-Verfahren – sie einen Abschnitt, die Schüler einen Abschnitt, und so weiter bis zum Schluss – schreibt sie gemeinsam mit ihnen eine Geschichte. „Am Ende sind die stolz wie Bolle“, sagt Muhr. Und sie ist es auch: Sie hat ihren Traum wahr gemacht.