LAUF — 600 Menschen, und wohl noch etliche mehr, die keine Karte mehr bekamen, wollten Henning Scherf, den vielfach verdienten SPD-Mann und ehemaligen Bürgermeister von Bremen, bei den Laufer Literaturtagen kennenlernen. Dies nicht nur wegen seiner Politikvergangenheit, sondern auch und vor allem wegen seiner eigenwilligen Art, den dritten Lebensabschnitt anzugehen. Henning Scherf bewies sich in den zwei Stunden als einer, der in jeder Hinsicht tut, wovon andere sagen, dass es für die Zukunft wünschenswert wäre.
Dass er schwer zu bändigen sei, hat Laufs Büchereileiterin Beate Hafer-Drescher schon im Vorfeld erfahren. Nun steht sie am Rand der ausverkauften Bertleinaula und hält Ausschau nach dem Gast des zweiten Literaturtage-Abends, Henning Scherf, der durch die Reihen geht und jedem Besucher zur Begrüßung die Hand schüttelt.
Nachdem sie ihn sanft darum gebeten hat, nun mit der Veranstaltung zu beginnen, nach ihrer Einführungsrede und seinen Dankesworten, nimmt er nicht etwa hinter dem Lesetisch Platz, sondern stellt sich plaudernd und zum Mitreden auffordernd mitten ins Publikum: „Sie wollen Patentrezepte fürs Alter, ich bin neugierig, wie Sie damit umgehen.“
In munterem Ton erzählt er von 30 geschenkten Lebensjahren, welche kriegsfreie Zeit und medizinischer Fortschritt uns bescheren, und davon, dass diese nicht einfach irgendwie verbracht, sondern auf erfüllende Weise gestaltet sein sollten. Und verrät gleich das erste „Patentrezept“, das zugleich sein außergewöhnliches Agieren in der Bertleinaula erklärt: „Auf Menschen zugehen, gerade auf Angehörige anderer Generationen. Ich lerne dabei mehr, als wenn ich nur Leute treffe, die eh das Gleiche denken wie ich.“ Und er berichtet von seinen Gesprächen mit Grundschulkindern und von Theaterbesuchen mit einer ehemaligen Schauspielerin, die im Altersheim lebt.
Von hier schlägt Scherf den Bogen zu seinem neuem Buch, das im Januar erscheinen wird. Er schildert darin, was er bei Besuchen in „Pflegewohngemeinschaften“ erlebt hat. Wohngemeinschaften, in denen pflegebedürftige Personen je eigene Appartements bewohnen, und mit der Hilfe von ehrenamtlichen oder professionellen Kräften gemeinsam einkaufen, kochen, essen, auch Blumenbeete pflegen oder singen und insgesamt so eigenständig wie nur möglich leben. Er habe hier gesehen, wie sich Demenzkranke gegenseitig helfen und zu Aktivitäten animieren, wie sie plötzlich frühere Fertigkeiten reaktivieren und dadurch insgesamt aufblühen.
Sein Fazit: „Egal, wie alt und klapprig wir sind, wir müssen eine Aufgabe haben, wir müssen gefragt sein.“ Seiner Erfahrung nach schiebe sich das Fortschreiten der Demenz auf diese Weise sehr lange hinaus. Solche Pflegewohngemeinschaften könnten entweder in Eigeninitiative gegründet werden, unter einem institutionellen Träger wie Diakonie, Awo oder Caritas oder aber von Wohngenossenschaften, die ihre älter werdenden Mieter nicht verlieren wollen. In jedem Fall seien solche Modelle eine „Provokation gegen das Pflegebettengeschäft“, nicht zuletzt, weil die monatlichen Wohnkosten nicht mehr als 700 Euro betragen. Skandinavien und die Niederlande machten den Paradigmenwechsel längst vor. Für Scherf steht fest: „Hier liegt die Zukunft.“
An dieser Stelle regten sich heftige Reaktionen im Publikum. Scherf zeichne das Bild eines Senioren-Wunderlands. Versicherungstechnische Probleme, Dokumentations- und Evaluations-Vorschriften der Pflegeversicherung und andere bürokratische Hürden verunmöglichten aber seine Vision.
Doch der Gast aus Bremen, der sich zwischenzeitlich immer mal leger auf den Rand des Podiums gesetzt hat und dann wieder aufgesprungen ist, lässt sich nicht verunsichern. Es seien reale, positive Beispiele, von denen er berichte. Mit ihnen wolle er das Bewusstsein wecken, dass humanes und zugleich wirtschaftlich vernünftiges Wohnen für pflegebedürftige Menschen möglich sei. Es bliebe nur die Aufgabe, durch Hausumbauten entsprechende architektonische Voraussetzungen zu schaffen sowie durch Umgestaltung der Stadtstrukturen Rahmenbedingungen zu errichten, die alte Menschen am sozialen Leben teilnehmen lassen. Vor allem wichtig seien Einkaufsläden im Wohnviertel.
Schließlich berichtet der 74-Jährige von seiner eigenen generationsübergreifenden WG, die er mit seiner Frau und acht weiteren Personen vor 25 Jahren gegründet hat. Heute wohnen in dem Haus mit je abschließbaren Wohnungen und Raum für gemeinsame Mahlzeiten zwei ältere Paare, drei knapp 30-Jährige und eine 17-Jährige. „Gerade weil es keinen Zwang zur Gemeinschaft gibt, stehen die Türen immer offen und wird am Sonntag zusammen gefrühstückt.“ Die anfänglich sieben Autos reduzierten sich mit der Zeit auf eines, an Weihnachten sorgen alle gemeinsam dafür, dass zehn Enkelkinder übernachten können. Scherfs Wahl-Großfamilie funktioniert.
Da sind einige gute Patentrezepte dabei gewesen!
Das „Senioren-Schlaraffenland“ hat Henning Scherf damit auch keinesfalls verkündet, aber jeder einzelne und manch kleine Schritt ist oft schon ein Gang in die „richtige“ Richtung!!