Erfüllter Lebensabend: Ruhestand bei Lebenshilfe

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Gemütlich sieht es in der etwa 20 qm großen Mansarde in der Wohnstätte am Bitterbach aus. Helle Wände, die mit selbst gemalten Bildern, Mandalas und Fotos geschmückt sind, eine kleine Küchenzeile an der Stirnseite und einem großen Tisch in der Mitte. Drei Männer und eine Frau sitzen zusammen und jeder ist in seine Beschäftigung vertieft. Paula Hein strickt in ihrer Lieblingsfarbe blau einen Schal, Andreas Elsner geht seiner Lieblingsbeschäftigung nach und schreibt seinen Tagesablauf nieder, Karl Reck malt, was er für sein Leben gerne tut, wie er gleich bekräftigt, und Herbert Müller bastelt mit großer Hingabe ein florales Muster mit dem Ministeck. Die kleine Gesellschaft bildet die erste Rentner-Gruppe der Lebenshilfe im Nürnberger Land. Ein Novum, denn Rentner mit einem geistigen Handicap gab es in Deutschland noch nie.

NÜRNBERGERB LAND — Bis auf Paula Hein, die bei der Familie ihres Bruders lebt, wohnen die Männer der Rentner-Gruppe, Karl Reck und Herbert Müller seit 10 Jahren und Andreas Elsner bereits seit Bestehen des Hauses, also seit 20 Jahren, in
der Wohnstätte am Bitterbach in
Lauf.
Die Wohnstätte ist heute das Zuhause für 38 Frauen und Männer mit geringem Hilfebedarf, die tagsüber ihrer Arbeit in den Moritzberg-Werkstätten nachgehen. Zumindest war das genau so, bis die ersten Arbeitnehmer der Lebenshilfe ins Rentenalter kamen. Während der Woche gab es im Wohnbereich kein festes Tagesangebot.
Doch Menschen mit geistiger Behinderung brauchen auch in der Rente Betreuung und Eingliederungshilfe, das heißt sie brauchen mehr Hilfe, mehr Begleitung, mehr Unterstützung, um am gesellschaftlichen Leben im Alter teilnehmen zu können.
Werden Förderung und Begleitung  eingeschränkt, verlieren Rentner mit geistiger Behinderung sehr viel schneller ihre Fähigkeiten, was eine Folge des Handicaps ist. 
„Die qualitative Betreuung der Rentner war eine wichtige Herausforderung für uns“, erinnert sich Dietmar Meinlschmidt, Leiter der Wohnstätte.
Die Entscheider waren sich von vornherein darüber einig gewesen, die frisch gebackenen Rentner nicht aus ihrem gewohnten Umfeld zu nehmen. Dabei lag der Vorstandschaft und Geschäftsleitung besonders am Herzen, dass die Rentner ihren Tag nach ihren Wünschen und Bedürfnissen gestalten können. Die Lebenshilfe Nürnberger Land schaffte daher für ihre ersten Rentner ein festes Betreuungsangebot, eine so genannte Tagesstrukturierende Maßnahme, kurz TSM, direkt in der Wohnstätte.
Es klappe sehr gut, sind sich die Betreuerinnen Susanne Pongratz und Heidi Görnitz einig:  „Die Menschen, die hier zusammen wohnen und auch tagsüber zusammen sind, sind sich vertraut, alle kennen sich von ihrer Zeit  in den Moritzberg-Werkstätten.“
„Am Anfang war es für mich gar nicht so einfach, diesen neuen Lebensabschnitt anzunehmen“, erinnert sich der 70-jährige Herbert Müller, der seit fünf Jahren im Ruhestand ist: „Heute klingelt mein Wecker um 8.30 Uhr.“ Früher, als er noch in den Moritzberg-Werkstätten in der Montage gearbeitet hatte, schellte der Wecker bereits um sechs Uhr. Obwohl Norbert Mahlich das frühe Aufstehen nicht immer leicht fiel, sei er immer sehr gerne zur Arbeit gegangen, erzählt er nicht ohne Stolz: „Ich war in der Montage tätig und habe auch oft Verpackungen abgezählt. Immer 50 Stück. Ganz genau 50 Stück.“
Der Abschied aus dem Arbeitsleben fiel ihm anfangs nicht einfach:  „Ich bin so gerne arbeiten gegangen“. Vor allem weil er auch sehr rüstig sei, Arbeit habe für ihn alles bedeutet. Ein gutes Miteinander sei dort gewesen, nette Kollegen, nette Betreuer, die immer ein offenes Ohr für einen hatten. 25 Jahre war er in den Moritzberg-Werkstätten in verschiedenen Abteilungen beschäftigt. Andreas Elsner sogar 30 Jahre, der wie auch Paula Hein, im Montage-Bereich tätig war: „Wir haben meist Teile für MAN-Motoren zusammengeschraubt.“
Eine Arbeit, die viel Geschick und Konzentration erfordert. Doch wer 20 oder 30 Jahre gearbeitet hat, bei dem lässt die Leistungsfähigkeit nach. Arbeit ist für Frauen und Männer mit Behinderung ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Die Arbeit gibt Menschen mit Handicap einen festen Tagesablauf und schafft gleichzeitig einen hohen Stellenwert im sozialen Umfeld. Eine Aufgabe, Anerkennung, Kollegialität und Freundschaften und man verdient eigenes Geld. Seit den 70er Jahren sind die Moritzberg-Werkstätten in Lauf-Schönberg ein wichtiger Arbeitgeber für Menschen mit Handicap. Inzwischen arbeiten hier in den unterschiedlichsten Bereichen 350 Beschäftigte mit geistiger oder mehrfacher Behinderung. Die Moritzberg-Werkstätten arbeiten nach zertifizierten Qualitätsstandards, vor allem aber sozial und spürbar menschlich nach den Bedürfnissen der betreuten Menschen.
Der Ruhestand ist eine Zeit im Leben, in der man Neues kennen lernen oder die Dinge tun kann, die man schon immer tun wollte. Das gilt auch für Menschen mit geistiger Behinderung. Langeweile kommt bei der Gruppe nicht auf. Herbert Müller schwärmt auch noch ein Jahr später von der letzten Freizeit: „Wir waren eine Woche in den Bergen auf einem Ponyhof in Österreich, konnten auch im Stall helfen oder  die Pferde füttern“. Nicht alles wird miteinander erledigt.
Die TSM bietet Gruppenangebote, aber auch individuelle Betreuung und Unterstützung, zum Beispiel bei Hobbys, Arztbesuchen oder etwa bei einer Krankengymnastik. Sehr genießen es die Rentner, wenn Besuch kommt. Integration sowie Inklusion, also die gleichgestellte Teilhabe aller Menschen an der Gemeinschaft, ist ein wichtiges Lebenshilfe-Thema. „Von Anfang an war es die Philosophie unseres Hauses, sich zu öffnen“, bekundet dies Wohnstättenleiter Meinlschmidt. So kommen in der Urlaubszeit öfter Kollegen aus den Moritzberg-Werkstätten, um gemeinsame Stunden mit der TSM-Gruppe zu verbringen. Die Beziehung zur Nachbarschaft, besonders zum Gymnasium, wird von den betagten Leuten ebenfalls hoch geschätzt. „Ich freu mich immer so, wenn die netten Schüler kommen“, sagt Karl Reck und begründet dies nicht zuletzt damit, dass er dann neue Gesichter sehe, die er porträtieren könne. Die Jugendlichen der 7. und 10. Klasse seien sehr aufgeschlossen und besuchen die Rentner ab und an auf eine Tasse Tee. Die Schüler haben eine gesunde Neugier und hören gern zu, wenn die Senioren aus ihrem Leben erzählen und das kommt bei allen gut an. Manche der Schüler interessieren sich inzwischen auch für Praktika bei der Lebenshilfe oder für ein freiwilliges soziales Schuljahr, so Dietmar Meinlschmidt.
Neben viel Individualität und Integration gehört die feste Tagestruktur zu den wesentlichen Dingen der TSM. Gemeinsame Gespräche und Diskussionen, die das aktuelle Tagesgeschehen aufarbeiten, gehören wie die gemeinsamen Mahlzeiten zum täglich Brot. Ebenso, dass jedes Gruppenmitglied eine Aufgabe innehat, so wie in einer Familie. Ein Ämterplan regle genau, wer mit Geschirrspülen, Blumengießen oder Mülleimer leeren dran ist, erzählt Paula Hein.
Der Tagesrhythmus wird von den Rentnern selbst bestimmt und sie organisieren, wenn auch mit Unterstützung, diesen selbst. Alle 14 Tage bruncht die Gruppe gemeinsam, wo Karl Reck dann seine beliebten Rühreier mit Zwiebeln zubereitet. Und einmal in der Woche heißt es dann auch gemeinsam Kochen und Backen. Neben bester Unterhaltung und jeder Menge Spaß schult Malen, Basteln, Schreiben, Stricken, Rechnen oder Kochen und Backen die körperliche, als auch geistige Geschicklichkeit, fördert die Sinne und führt bei den Betreuten zu einem erfüllten Tag.
Die Lebenshilfe bietet ihren Rentnern ein attraktives Angebot für einen erfüllten Lebensabend. Dennoch, ein strenges Programm gibt es nicht. Stattdessen sind Rituale, also klare einfache Abläufe wichtig. Das gibt Menschen mit geistiger Behinderung Halt und Sicherheit und schafft ein fast ganz normales Rentnerleben.

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