Benedikt Bisping durfte Nazir Alhusein begleiten

Auf Deutschlandreise mit einem syrischen Lokführer

Nazir Alhusein mit seiner blauen Güterzuglokomotive, einer Railtraxx-Leihlok der Baureihe 185 510-5. | Foto: Bisping2020/09/Bisping-Zugabfahrt.jpg

Benedikt Bisping (52), bekennender Bahnfreund und bis Mai dieses Jahres Bürgermeister der Stadt Lauf, schreibt über eine ganz besondere, Bisping sagt „ana­chronistische“, Mitfahrt in der Lok eines Güterzugs quer durch Deutschland. So ungewöhnlich diese Reise ist, so außergewöhnlich ist die Geschichte des Lokführers Nazir Alhusein.

Nazir Alhusein ist 29 Jahre alt und geborener Syrer. Als Flüchtling kam er vor fünf Jahren nach Deutschland, heute lebt er mit Frau und Kindern in Happurg im östlichen Landkreis. Nazir wurde in Deutschland in weniger als einem Jahr zum Lokführer ausgebildet und rollt nun mit bis zu 3590 Tonnen im Schlepptau durch die Republik. „Für uns ankommen“, hat Bisping seine Reisegeschichte für die PZ überschrieben.

Für uns ankommen

Mainz-Kastel – es ist dunkel und ungemütlich nasskalt. Bodennebel lässt die ersten ankommenden S-Bahnen nur schwer erkennen: Mainz-Kastel, einer der so typisch heruntergekommenen Vorort-Bahnhöfe Deutschlands: Balkan-Grill und Nagelstudio neben verrammelten Türen und Fenstern des alten Bahnhofsgebäudes. Früher durften sich Reisende in der Halle aufwärmen. Nun warten auf den barrierefreien Bahnsteigen leicht frierend meist Migranten auf ihre Bahn, um nach Frankfurt-Flughafen, Wiesbaden oder Mainz beispielsweise zur Frühschicht zu fahren. Mainz-Kastel. Inmitten Deutschlands. Main und Rhein treffen sich hier.

Im Schlafwagen des modernen NightJet fuhr ich dazu nachts ab Nürnberg. Pünktlich. Bequemeres Reisen durch die Nacht gibt es kaum. Frühstück samt Orangensaft, Grünem Bio-Tee und frischen Brötchen brachte mir ein sehr netter Schlafwagenschaffner direkt ins Abteil. Er kommt aus Ungarn. Die Deutsche Bahn hat sich längst vom Nachtzug und von Autoreisezügen verabschiedet. Angeblich war es unwirtschaftlich. Nun fahren die Österreicher mit ihrer ÖBB durch die Nächte Deutschlands und verbinden uns mit Europa: Moskau, Prag, Berlin, Zürich, Nizza, Rom, Florenz, Hamburg, Düsseldorf, München, Nürnberg. Mit Ertrag und vollen Zügen. Sobald die neu bestellten Wagen in modernem Design geliefert werden, soll das Netz ausgebaut werden.

Lokführer und Bahnfan: Nazir Alhusein beim Selfie mit Benedikt Bisping.2020/09/Bisping-Gruppenfoto-Gemuenden.jpg

Noch kurz vor Frankfurt-Flughafen erreicht mich eine SMS: „Guten Morgen Bene, unser Zug steht nicht in Bischofsheim, bitte komme nach Mainz-Kastel.“ Dank Google-Maps und DB-Navigator-App eigentlich ein Leichtes. Nur, was ist passiert?

So stehe ich nun ebenso früh morgens auf dem zugigen Bahnsteig in Mainz-Kastel und warte auf Nazir …

Vor fünf Jahren flüchtete er mit 24 Jahren als Jurastudent aus dem Norden Syriens, nahe der türkischen Grenze nach Deutschland. Schnell lernte er Deutsch und fing an, in Hersbruck bei einem Elektriker als Aushilfe zu arbeiten. Er hatte Pech: Der Handwerksbetrieb ging in Konkurs. „Nein, ich wollte keine lange Ausbildung für drei Jahre beginnen, ich wollte endlich arbeiten und schnell lernen“, so seine Motivation.

Ehrenamtliche Asylbegleiter und die Integrationslotsin des Beruflichen Fortbildungszentrums der Bayerischen Wirtschaft in Nürnberg brachten ihn schließlich auf die Idee, mit einer Lokführerausbildung zu starten. Ich erinnere mich an unsägliche Diskussionen in den sozialen Medien: „Asylbewerber sollen Lokführer in Deutschland werden …“ Tatsächlich werden Lokführer von der Deutschen Bahn und den privaten Eisenbahngesellschaften verzweifelt gesucht. Laut Gewerkschaft sollen bereits jetzt über 1 000 Lokführer deutschlandweit fehlen. In den nächsten Jahren wird sich die Lage weiter verschärfen, da langjährige Lokführer in den Ruhestand gehen und immer mehr Züge fahren.

Theorie und Praxis

Bei einer Ausbildungsfirma mit Sitz in Berlin und Standort in Nürnberg startete Nazir schließlich die Ausbildung zum Triebfahrzeugführer. Allein unzählige Signalstellungen und Symbole hatte er zu lernen. Neben Bremsproben-Technik, Wagen- und Lokomotivkunde auch reine Fahrpraxis. In der Ausbildung und Prüfung werden auch Fahrsimulatoren eingesetzt. Ende Oktober 2018 kam für Nazir die erlösende Nachricht: Alle Prüfungen hat er mit Erfolg bestanden. Er erhielt die Zulassung als Triebfahrzeugführer, wie Lokomotivführer offiziell genannt werden.
Losrollen durfte er aber damit noch nicht. Er war zu schnell: In nur neun Monaten schloss er seine Prüfung erfolgreich ab! Das Eisenbahnbundesamt hatte mit der Schnelligkeit vermutlich nicht gerechnet und es brauchte noch viele Tage bis kurz vor Weihnachten, bis er endlich den lang ersehnten Bahn-Führerschein erhielt.

Umso größer war die Freude des so freundlichen, ehrgeizigen und zielstrebigen Syrers, der in Happurg zusammen mit seiner deutschen Frau und ihren zwei Kindern lebt und jetzt für die private Eisenbahngesellschaft IGE mit Sitz in Hersbruck Güterzüge durch ganz Deutschland fährt.
In Mainz im Hotel übernachtend, kommt Nazir nun umgeleitet mit der S-Bahn in Mainz-Kastel an. „Unser Zug muss hier irgendwo stehen, wo, weiß ich auch nicht. Ich war hier noch nie.“ Er erklärt, dass sein Kollege den Güterzug in der Nacht nicht planmäßig in Mainz-Bischofsheim abstellen konnte. Es seien dort alle Gleise belegt gewesen. Dies passiere immer wieder. Es ist zu wenig Platz für die Güterbahn in Deutschland. So wurde er auf die andere Mainseite nach Kastel umgeleitet.

Auf der Suche nach dem Zug

Nur, wo steht jetzt unser Güterzug? Dunkelheit und Nebel machen es nicht leichter. Neben den Bahnsteigen für die S-Bahnen sind keine weiteren Gleise zu erkennen, schon gar nicht ein abgestellter Güterzug. Was nun? „Ich rufe mal den nächsten Fahrdienstleiter an, mal sehen, ob er uns helfen kann“, sagt Nazir. Ich glaube es kaum, ohne Einsatz mit privatem Handy findet man am frühen Sonntagmorgen schwer seinen eigenen Zug? Mitten in Deutschland. Nix GPS-Ortung, kein digitales Leitsystem.

„Geht einfach zum Ende des Bahnsteiges und lauft zwischen den Gleisen Richtung Osten. Es kommt ein Bahnübergang. Seid vorsichtig und dann leuchte ich euch entgegen. Ich sperre für euch ein Durchfahrtgleis, damit ihr zu eurem Zug laufen könnt!“ Wie bitte? Habe ich das jetzt richtig verstanden? Ich glaube es immer noch nicht. Tatsächlich, aus einem alten Stellwerk öffnet der Fahrdienstleiter sein Fenster und leuchtet uns mit seiner Lampe den Weg zum Zug.

Die Fahrt geht mitten durch Frankfurt – hier die Einfahrt in die Metropole über die Mainbrücke in der Morgensonne. Links der Glastower der Europäischen Zentralbank.2020/09/Bisping-MainbrueckeMorgens.jpg

Leere Waggons

Wir erkennen nun den letzten Wagen mit dem Schlusssignal. Erst jetzt sehen wir, was es überhaupt für ein Güterzug ist. Er hat heute keine Ladung. Es sind leere Rungenwagen von Antwerpen aus Belgien über Aachen kommend, die zurück zum österreichischen Stahlwerk Voestalpine in Linz gefahren werden müssen. Mit Warnweste, Bahnrucksack und Taschenlampe ist nun Wagenkontrolle und Zug-Abnahme angesagt. Beruhigend zu wissen, dass das Nachbargleis für uns gesperrt wurde, damit wir überhaupt einigermaßen sicher den 615 Meter langen Zug ablaufen und dadurch kontrollieren können. Es ist nur eine grobe Inaugenscheinnahme der Bremsen. Mehr ist faktisch nicht möglich. Eine Ausleuchtung gibt es nicht.

Eigentlich müssten wir schon längst auf der Strecke sein. Ab Bischofsheim nach Passau. Nun stehen wir auf der anderen Mainseite in Mainz-Kastel und „produzieren“ eine saftige Verspätung. Die beste Art, Gelassenheit zu trainieren. Ich bin sprachlos, wie dies am frühen Morgen mit dem Güterverkehr in Deutschland so läuft. Nazir fragte mich, was los sei? Dies sei ganz normal.

Die eigentlichen Fahrvorbereitungen auf der Lokomotive, einer privaten Railtraxx-Leihlok der Baureihe 185 510-5, verlaufen routiniert. Bremsdruck-Kontrolle, Zählerstand für den Stromverbrauch nur bei der Zugnummerneingabe gab es leichte Softwareprobleme. Im zweiten Anlauf klappte es und so konnte Nazir zum Fahrdienstleiter melden: „Wir sind jetzt abfahrbereit.“ Wir hatten noch eine S-Bahn abzuwarten, bevor das Signal auf Grün sprang und der Zug langsam losrollte.

Der Nebel lichtete sich und wir fuhren bereits über eine alte Main-Brücke aus Stahl gen Bischofsheim. Wir werden heute über Frankfurt geleitet, so Nazir. „Eine falsche Weichenstellung, und schon stehen wir mit unserem Zug im Hauptbahnhof“, scherzte er. Ihm sei so etwas aber noch nicht passiert. Man stelle sich vor, der lange Güterzug mitten in der Stadt im Kopfbahnhof. Ich stimmte mich nun auf die morgendliche Fahrt durch die Mainmetropole ein. Zum Sonnenaufgang mit dem Güterzug direkt durch Frankfurt, was für ein Erlebnis.

Doch Geduld: In Bischofsheim schickte man uns erst einmal auf ein Nebengleis. Nachts war dort alles voll, jetzt hatten wir zu warten. Wir waren ja schon etwa eine Stunde zu spät und bislang auf ungeplanter Strecke. „Warten gehört dazu.“ Völlig ungewohnt für mich, nicht zu wissen, wann es weitergeht. Mit der Bahn wurden früher die Zeiten und somit die Uhren im Lande eingeführt …

Vor fünf Jahren kam der syrische Flüchtling nach Deutschland, seit zwei Jahren besitzt er den Lokführerschein und roll mit schweren Güterzügen quer durch Deutschland.2020/09/bisping-Nazir-Blick.jpg

Entspannt im Güterverkehr

Nazir fährt gerne mit dem Güterzug und hat gar nicht vor, auf Personenzüge zu wechseln. „Dies ist richtig stressig. Du musst die ganze Zeit gegen die Zeit fahren, jede Minute zählt und Du kannst selber nichts machen, wenn der Zug Verspätung hat. Das ist sehr anstrengend. Mit der Güterbahn hast Du mehr Ruhe. Du brauchst nur Geduld …“ Über Funk erfahren wir nach über 25 Minuten: „Ich lasse euch gleich auf die Strecke.“
Auch wenn ich früher schon immer wieder mal vorne in einer Lok mitfahren durfte, ist es diesmal ein besonderes, ein ganz anderes Erlebnis. Im Schienenbus, im ICE, in der legendären TEE-Schnellzuglokomotive BR 103 oder in Dampflokomotiven ist es unvergleichbar. Ein Güterzug braucht sehr lange, bis er in Fahrt kommt. Die Beschleunigung dauert, noch viel anspruchsvoller ist aber das Bremsen. Bis die 660 Tonnen zu stehen kommen, und dies noch exakt vor einem Signal, will gelernt sein. Maximal hat er schon 3590 Tonnen schwer beladene Güterzüge mit einer maximalen Länge von 710 Metern gefahren. „Da brauchst du schon Erfahrung.“

Sicherheit zählt

Es zählt die absolute Sicherheit. Wehe, du vergisst die Wachsamkeitstaste zu drücken oder du lässt eine Signalbestätigung aus. Man hat zu tun und es ist Konzentration angesagt. Wenn du durch ein rotes Signal „rutschst“, kann es schwere Konsequenzen geben. Gute Augen brauchst Du noch dazu und Streckenkunde.

Wie war das nur früher in den Dampfloks? Man hat kaum die Signale gesehen, kaum den Funk verstanden, keine digitalen Anzeigen gehabt. Und trotzdem: Wir reisen quer durch Deutschland, durch eines der reichsten Länder der Welt, das von sich behauptet, ein sehr gut entwickeltes Technik-Land zu sein. Aber: Ich kann es nicht glauben, wie vorsintflutlich es hier mit der Bahntechnik beschaffen ist. Alleine auf unserer Strecke im Zentrum der Republik fahren wir mit vier (!) verschiedenen, teils völlig veralteten Signal-, Zug­sicherungs- und Steuerungstechniken. Teils gibt es auf der Strecke noch nicht einmal durchgehenden Empfang mit einheitlicher Kommunikations-, sprich Funktechnik. Irre.

Dazu passt ein Funkspruch der Fahrdienstleiter, den ich nicht vergessen werde: „Wie lange ist euer Zug? Ich muss schauen, auf welches Geis ich euch schicken kann.“ Habe ich das gerade richtig verstanden? Die Fahrdienstleiter haben keine Ahnung, wie lange unser Zug überhaupt ist und was wir geladen haben, obwohl die Fahrt mit einer eigenen Zugnummer Tage vorher bei DB Netz angemeldet werden muss und ein eigener Fahrplan errechnet wird?

Unfassbar. Ich bin richtig aufgebracht, das erleben zu müssen. Die Österreicher oder die Schweizer, so erzählt mir Nazir, sind da viel weiter als wir. Die haben nicht nur bessere Streckentechnik, sondern dort seien die Frachtbriefunterlagen für die Streckenmanager digital abrufbar.
Ich entdecke, dass unsere Güterwagen am Haken bereits GPS-Funktechnik installiert haben, für uns vergeblich. Deutschland lässt das neue, einheitliche Europäische Bahn-Leitsystem ETCS schleifen, der Ausbau kommt nur im Schneckentempo voran.

Apropos Tempo: Ein deutscher ICE darf ausgerechnet im Ausland schneller fahren als im eigenen Land; auf dem Weg nach Paris auf französischer Strecke sogar 320 km/h. Güterzüge fahren in der Regel nicht schneller als 100 km/h. Es gibt aber auch moderne Güterwagen, die 120  km/h fahren dürfen. Wurden nicht einmal Güter-Waggons gebaut, die schneller fahren könnten? Nazir zeigt mir Wagen, die laut technischen Anzeigetafeln im Ausland schneller fahren dürften als bei uns. „Güter auf die Bahn: schneller und sicher ans Ziel!“, so der frühere Slogan der ehemaligen Deutschen Bundesbahn.

Vorbei an Rüsselsheim, durch Kelsterbach, Frankfurt Süd und Ost, Hanau und Aschaffenburg. Eine schöne Strecke heute bei bestem Sonnenschein. Interessant die Spessart-Rampe. Wir haben mit unserem Zug großes Glück, wir können und dürfen die neue Tunnel-Strecke nutzen. Die Trasse wurde so gebaut, dass sie für viele Frachtzüge nicht genutzt werden kann. Die Steigung, die Spessart-Rampe genannt, ist – obwohl nagelneu – für viele lange, beladene Güterzüge zu steil. So etwas gab es schon immer. Das Problem ist jetzt nur, dass nach dem Trassenausbau keine Schublok-Unterstützung mehr vorgesehen ist. Das bedeutet, dass keine zusätzlichen Lokomotiven dort mehr Güterzüge mit anschieben können, da es einfach keine Abstell­gleise mehr für die Unterstützungsdienste gibt.

Völlig irre, trotz millionenschwerer Euro-Strecken-Investitionen und nagelneuer Tunneltrasse müssen nun entsprechende Züge im Zentrum Deutschlands auf Nebenstrecken großräumig umgeleitet werden. Gäbe es bei Autobahnen derartige Fehlplanungen, ein Bundesverkehrsminister würde vermutlich mit Rücktrittsforderung konfrontiert werden.

Ein Flügelsignal bei Sonnenaufgang: Blick aus dem Lokführerstand. /Foto: Bisping2020/09/bisping-Fluegelsignal-Sonnenaufgang.jpg

Nebenbei Zugkontrolle

Wir kommen gut durch. Keine weiteren Verzögerungen entlang der schönen Strecke durch das deutsche Mittelgebirge und weiter entlang des Mains. Zumindest bis Gemünden. Dort ist eine Fahrtunterbrechung angesagt. „Können wir uns bitte möglichst weit rechts abstellen?“, so seine Frage. Die mir jetzt schon bekannte Antwortfrage der Fahrdienstleiterin per Funk: „Ja, aber wie lange ist denn euer Zug?“ Mit offenem Mund verfolge ich das Geschehen. Pause? „Ja und nein. Eine besondere Pause.“ Wir haben einen Güterwagen zu kontrollieren. Alle 24 Stunden haben wir das zu tun“, so Nazir. Ich stellte mir nun vor, dass wir unseren Zug abzulaufen haben. „Nein, nicht unseren Zug.“

Denn seit Wochen steht ganz an der hinteren Seite des Bahnhofs Gemünden ein voll beladener Kesselwagen. Er hat ein schadhaftes Rad und darf nicht mehr weiterfahren. Es lief heiß. Ein großes Sicherheitsproblem. Beladen mit Gefahrgut. Dieser Waggon ist regelmäßig auf Dichtigkeit zu prüfen und dazu ist ein Protokoll zu erstellen. Diese sogenannte Gefahrgutkontrolle ist spätestens nach 24 Stunden durchzuführen und dem Gefahrgutbeauftragten des für den Transport des Wagens zuständigen Eisenbahnverkehrsunternehmens zu übermitteln.

Unvorstellbar für mich. Ein Lokführer hat einen defekten Gefahrgut-Waggon sicherheitstechnisch zu überprüfen, obwohl er einen eigenen Güterzug mit Verspätung durch Deutschland fahren muss. Nicht im Notfall, sondern obligatorisch und mit Ansage. Da das Eisenbahnverkehrsunternehmen nicht überall in Deutschland Personal zur Verfügung hat und Fahrdienstleiter für solche Aufgaben auch nicht mehr zuständig sind, werden in solchen Fällen die Lokführer angewiesen, während einer Pause die Kontrolle durchzuführen.

„Was ist geladen?“ „Schweröl. Wenn die Absperrventile tropfen würden, haben wir es zu melden. So machen wir es schon die ganze Zeit.“ Was mit dem Wagen passiert, weiß er nicht. Ich vermute, dass der Wagen erst repariert werden muss und das ist wiederum Aufgabe des Wageneigentümers.

Puh. Es hätte schlimmer sein können: Alle Ventile und Stopfen sind dicht. Lediglich Tauwasser tropft vom Fahrgestell auf den Schotter. Unfassbar, was ich erlebe.

„Komm, wir fahren weiter!“ Wir müssen heute noch bis Passau. Die Fahrt über Würzburg und vorbei am Steigerwald läuft gut. Die Signale stehen alle auf Grün. Am Sonntagmorgen ist nicht so viel los. An anderen Tagen ist diese Stammstrecke richtig voll. Oft müsse man am Nebengleis auf die vielen ICEs oder Regionalzüge warten. Die haben Vorrang. Es kam schon vor, dass ein Güterzug mehr als einen Tag Verspätung hatte. Es gibt zu wenig Gleise. Viele Schienen und Weichen sind abgebaut worden, erklärt mir der Syrer das Deutsche Bahn-Netz. Für die Planung und Logistik ist das eine Zumutung.

„Wo willst du lieber Pause machen?“ „Wie bitte, du fragst mich?“ „Ja, in Fürth oder im Nürnberger Rangierbahnhof“. Wow, cool. „Ich kann mir das aussuchen?“ „Ja, wir haben den Fahrdienstleister zu fragen.“
Wir haben Glück. Nichts gegen Fürth, aber eine Pause im Nürnberger Rangierbahnhof. Wer kann das schon von sich behaupten? Die Einfahrt war schon etwas Besonderes, das Einrollen in einen der größten Güterbahnhöfe Europas. Wir erhalten mit unserem langen Zug eine gute Abstellanlage. Vorbei rollen Güterwaggons aus ganz Europa. Lokomotiven rauschen an uns vorbei und es herrscht eifriger Rangierbetrieb. Deutsche Bahn-Loks im klaren Rot und auch viele private Bahngesellschaften sind vertreten.
Ich fragte Nazir, ob wir nun in die Kantine gehen könnten. Ich kenne sie von einem Tag der offenen Tür. Er schaute mich an: Nein, das gehe nicht. Warum? Wir bleiben auf der Lok. Wie? Ja, nicht das was passiert oder was geklaut wird. Soll auch schon passiert sein. Echt?

Ok, meine Thermoskanne, die schon Hunderttausende Bahnkilometer mitreiste, soll auch genügen, und reichlich Proviant war auch dabei … Mahlzeit in der Lok auf dem Nürnberger Rangierbahnhof.
Nazir erzählt mir von seiner Heimat in Syrien nahe der türkischen Grenze. Über die Flucht redet er kaum, auch nicht viel über seine Familie, die daheim blieb.

Er sei so sehr dankbar und ist so glücklich, nun endlich in Deutschland als Lokomotivführer arbeiten zu dürfen. Er hat sich dies als Ziel gesetzt und es geschafft. Er ist nun für uns unterwegs. Ein Freund von ihm hat es hingegen schwerer, er versteht einfach die Durchsagen von den Bahnkollegen nicht so gut und die Prüfung ist sehr anspruchsvoll. Lokführer werden händeringend gesucht. Dabei ist der Verdienst, auch mit den Nacht- und Feiertagszuschlägen, doch eigentlich ganz ordentlich. Die SBB, die Bahnkollegen aus der Schweiz, zahlen zwischenzeitlich eine Anwerbeprämie sogar von 5000 Euro. Immer wieder müssen Züge entfallen, da keine Lokführer vorhanden sind.

Das Potenzial wäre vorhanden

Die private Bahngesellschaft bei der Nazir fest beschäftigt ist, fährt schon für die Cargo-Abteilung der Deutschen Bahn. Der Güterverkehr auf der Schiene in Deutschland steigt leicht. Endlich. Es wäre aber viel mehr möglich. Etwa die Hälfte aller Frachtzüge wird zwischenzeitlich von privaten Unternehmen auf die Schiene gebracht. Es gibt großes Potenzial, erzählt Nazir. Es müsse nur endlich mehr ausgebaut und investiert werden, vieles sei in Deutschland bahntechnisch sehr veraltet – und es gibt auch zu wenige Gleisanschlüsse.

Er werde ab und zu über Bahnfunk gefragt, woher er kommt. Wenn er ihnen antwortet, wollen es viele einfach nicht glauben. Ein Flüchtling fährt für unser Land und kommt für uns an. Noch dazu: Er macht es nicht nur gerne und gut, sondern zeigt es auch anderen. Ich bin mir ziemlich sicher, in nicht allzu naher Zukunft wird er das Lokfahren anderen Menschen beibringen. Hier in Deutschland.

Er strahlt beim Erzählen mit seinem besonderen Blick umso mehr, wenn es um seine Frau Lisa geht – sie arbeitet zwischenzeitlich ebenso für die Bahngesellschaft IGE – und er nach seinen Fahrten wieder nach Hause kommen darf. Einzig das lange Ausschlafen vermisse er als Triebfahrzeugführer. Gemeinsam mit Lisa und ihren zwei Jungs lebt er sehr glücklich in Franken und hat viele Freunde. „Es ist sehr schön hier!“ Die Pause ist schneller vorbei als gedacht.

So, noch schnell auf Toilette gehen, bevor die Weiterfahrt startet. „Gehe bitte hinter die Lok!“ Wie? Darf ich nicht zum WC hier am Rangierbahnhof, wollte ich wissen. „Theoretisch schon, aber soweit ich weiß, braucht man dazu einen Schlüssel von der großen DB. Den habe ich aber nicht.“ Bitte? „Mit der Zeit weiß man schon, an welchen Bahnhöfen man anhalten und zur Toilette gehen kann.“ Wie kann das sein? Wie machen das gar Lokführerinnen? „Ja, das ist ein Problem! Es ist nicht einfach …“

Eine Toilette für jede Gesellschaft?

Ich schaue ihn irritiert an. Nein, das gibt es nicht. Später sagte man mir, dass eigentlich das jeweilige Eisenbahnunternehmen zuständig ist – aha, jedes Eisenbahnverkehrsunternehmen soll am Pausenbahnhof eigene Toiletten bauen.

Ich stelle mir gerade an jedem Bahnhof eine Reihe von Dixi-Klos vor … Ich packe es kaum. In Deutschland gibt es keine vernünftige Toilettenregelung für Lokführerinnen und Lokführer, die für uns durch das ganze Land fahren. Also, es gibt keine kostenlosen Parkplätze für Züge mit Raststätten inklusive öffentlicher Toiletten. Man stelle sich das vergleichbar nur einen Tag auf deutschen Autobahnen vor. Es gäbe einen Aufstand!

Güterbahnfahren in Deutschland im 21. Jahrhundert. Danke, lieber Nazir. Du hast mir unser Land von deiner Lok aus, von einer ganz anderen Seite, gezeigt.

Züge haben eine gigantische Zukunft, die Bahnen fahren nur ohne Lobby. Es gibt viel mit Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer zu besprechen. Sehr viel.

Text von Benedikt Bisping

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