Politikverdrossenheit allenthalben, im konservativen Lager, ganz links, bei den Ökos und den Liberalen. Und die Piraten? Die neue Partei sammelt die Stimmen der Unzufriedenen und Enttäuschten und fuhr in Berlin und im Saarland Ergebnisse ein, die noch vor einigen Monaten niemand für möglich gehalten hätte. Während die Mitgliederzahlen der etablierten Parteien kontinuierlich abnehmen, freut man sich bei der Partei mit der orangeroten Fahne über ständig wachsenden Zulauf. 77 Freibeuter gibt es mittlerweile im Nürnberger Land. Im Dezember vergangenen Jahres wurde in Altdorf der Piraten-Kreisverband gegründet, deren Kapitän ist Christian Kubisch, der seit drei Jahren für die junge Partei aktiv ist. Wir haben den Kreisvorsitzenden in Altdorf besucht.
ALTDORF – Christian Kubischs Arbeitszimmer in seiner im ersten Stock gelegenen Wohnung in der Sturmstraße hat ein Fenster, aus dem der Blick über Altdorfer Dächer weit in die frühlingsgrüne Landschaft geht. Einen Rechner mit zwei Monitoren gibt es, Bücherregale, Fußball-Devotionalien und eine große Piratenflagge an der Wand. „Habe ich mir so eingerichtet“, sagt der 37-Jährige, als er einen Kaffee serviert. Es klingt irgendwie augenzwinkernd, als bräuchte ein echter Pirat kein Arbeitszimmer. Braucht er aber doch. Gerade als Kreisvorsitzender, gerade in Boom-Zeiten wie jetzt, wo das Interesse an der exotischen Gruppe stetig steigt. Zu den ersten Stammtischen der Piraten vor drei Jahren kam gerade einmal eine Handvoll Leute, immer dieselben, junge Männer mit dem Kopf voller Ideen für Rechner, Netzwerke und die Verknüpfung von Informationen. Zu den aktuellen Treffen kommen regelmäßig mehr als 20 Leute, alle Altersgruppen sind vertreten, von ganz jungen bis zu über 70-jährigen Senioren. So war das vergangene Woche beim Stammtisch in Leinburg, sagt Kubisch und strahlt.
Da muss man durch
Piraten-Politik macht offensichtlich Freude. Immer? Na ja, räumt der Altdorfer Kreisvorsitzende ein, da gibt es dann hin und wieder auch diese Anrufe von Leuten, die in den Piraten ihre letzte Hoffnung sehen, Leute, die von bedrohlichen Phänomenen reden, von Geräuschen und gefährlicher Strahlung. Da muss man durch als Piraten-Kapitän. Er habe das erstmal lernen müssen, sagt Kubisch. „Da war ich anfangs 20 Minuten am Telefon mit solchen Gesprächen beschäftigt.“
Ob die von Aliens gekidnappten Strahlenopfer wohl auch bei CSU oder SPD anrufen? 15 Jahre war Kubisch in der SPD, hat sich in den ersten fünf Jahren bei den Jusos engagiert und seinerzeit die Wahlkämpfe des ehemaligen Altdorfer SPD-Bürgermeisters Rainer Pohl unterstützt. Aber richtig heimisch geworden ist der 37-jährige Bürokaufmann in dieser SPD wohl nie. Sonst wäre sein Abschied vor drei Jahren nicht so schnell, sein Wechsel zu den Piraten nicht mit so viel Enthusiasmus vonstatten gegangen: „Die Piraten-Grundthemen Bürgerrechte, Urheberrecht, Bildung – das waren meine Themen.“ Über die SPD sagt Kubisch nichts abwertendes. Aber er betont: Politik solle offen sein für die Bürger. Aus Piraten-Sicht sind die Etablierten nicht offen genug für das Wahlvolk. Wenn Listen gezimmert, Delegierte für Parteitage gewählt und in Hinterzimmern geklüngelt wird, hat das sicher nur für einen sehr begrenzten Personenkreis Charme. Menschen an Politik zu beteiligen, sieht nach Kubischs Überzeugung anders aus. Er fährt seinen Rechner hoch, lädt eine Piraten-Seite und erklärt das Piraten-Pad. „Das sind die ersten Werkzeuge, die wir Leuten beibringen, wenn sie bei uns mitmachen wollen.“ Mit dem Pad können alle Freibeuter zu allen relevanten Themen diskutieren und können gemeinsam Anträge schreiben. Höchst unübersichtlich wirkt das auf Außenstehende, ungewöhnlich und chaotisch.Geht aber – sagt jedenfalls Kubisch.
Weil also alle Piraten-Mitglieder sich zu allen möglichen Themenfeldern äußern können und die Partei kein Delegierten-System kennt, können zu Bundesparteitagen theoretisch alle rund 50.000 Mitglieder anreisen und – wiederum theoretisch – zigtausende von Anträgen stellen. Auf dem jüngsten Parteitag in Offenbach im Dezember 2011 ging es dementsprechend zäh zu. Natürlich kamen nicht alle 50.000 Mitglieder, sondern nur rund 2000. Die einigten sich dann auf Piraten-Programm-Eckpunkte, die für Wähler etablierter Parteien teilweise ebenso kurios wie schockierend sind. Beispiel Drogenpolitik: Rauschgift jeder Art, von Haschisch bis Heroin, soll legalisiert werden. „Wir wollen Süchtige entkriminalisieren und den illegalen Handel austrocknen“, sagt Kubisch. Das Problem könne man in den Griff bekommen, man müsse nur sehen, dass die aktuelle Drogenpolitik gescheitert sei. „Weil die Zahl der Abhängigen nicht zurück geht.“ Für den Staat würde die Legalisierung von Drogen auch finanzielle Vorteile bringen, weil deren Besteuerung zu Millioneneinnahmen führe, heißt es im Beschluss des Bundesparteitags in Offenbach. Außerdem könnten mit dem Verzicht auf Strafverfolgung Millionen eingespart werden. Wie Käse und Brot wollen die Piraten Drogen freilich nicht verkaufen. Vielmehr sollen Beipackzettel über die „Produkte“ informieren. Außerdem sollen Kinder und Jugendliche ausführlich über Drogengefahren aufgeklärt werden.
Anonyme Diskussionen
Das alles ist hochgefährlicher Schwachsinn – sagen Piraten, die sich in Diskussionsforen zu den Beschlüssen von Offenbach äußern, allerdings in der Minderheit sind. Sie können bis zum nächsten Bundesparteitag versuchen, für ihre Position Mehrheiten zu finden, zu organisieren und in Stellung zu bringen. Dass in den Diskussionsforen dabei anonym diskutiert wird, ist für Kubisch kein Problem. Im Gegenteil: So lasse sich offener debattieren. Und auf Piratentreffen kennen sich die Leute oft nur unter ihrem Internet-Namen. „Bei vielen weiß ich gar nicht, wie die heißen“, sagt der Kreisvorsitzende.
Grundeinkommen für alle
Das bedingungslose Grundeinkommen für alle ist ein weiterer Aufreger aus dem Piratenprogramm. „Warum eigentlich? Die Idee ist doch schon Jahrzehnte alt, da haben sich Leute mit beschäftigt und durchgerechnet, dass es geht.“ Nein, im Detail mag Kubisch das nicht erläutern. „Da gibt es Leute, die das besser können als ich“, sagt er.
Das Urheberrecht ist für die Piraten veraltet. Eine Aufhebung freilich fordern sie nicht. Wermit Kopien Geld verdient, soll weiterhin an den Urheber zahlen, allerdings will man Rechte nur noch für einen Zeitraum von zehn Jahren nach dem Tod des Urhebers schützen.
Und wann wollen die Piraten in den bayerischen Rathäusern mitmischen? Das komme ganz darauf an, wie die Entwicklung weiter geht, so der Kreisvorsitzende. „Jetzt sehen wir erstmal, wie die Bundestagswahlen und die Landtagswahlen für uns ausgehen.“ Dann werde man entscheiden.
ALEX BLINTEN