ALTDORF — So etwas gab es bislang im Altdorfer Café noch nicht: Da las am Mittwochabend ein Schriftsteller aus einem Roman – den es eigentlich noch gar nicht gibt. Denn Christian Kliers neues Buch „Das ganze Jahr November“ erscheint erst in einigen Tagen.
Darin geht es anfangs scheinbar um einen spannenden Krimi, doch bald entwickelt sich eine Reise direkt in die deutsch-französische Vergangenheit und zu den Abgründen der menschlichen Seele, und zwar mit einem historischen Hintergrund – dem Massaker von Oradour-sur-Glane.
„Das ganze Jahr November“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der die Rätsel der Vergangenheit entschlüsseln muss, um sein eigenes Leben wiederzugewinnen.
Tristan Novembre, der Protagonist, ist in einem düsteren, traurigen Leben gefangen. Er leidet an Erschöpfungssymptomen, verliert sich in Schuldgefühlen und Gedanken an seine verstorbene Frau.
Doch dann kommt plötzlich ein anonymer Brief aus Frankreich und lockt ihn an die Küste der Bretagne: Es gebe Informationen, Tristans Familie betreffend, die ihn interessieren könnten. Es ist eine Einladung in ein anderes Leben und Tristan nimmt sie an. Doch dort wartet nicht nur das Meer auf ihn, sondern vor allem Intrigen und Gefahren. Was dann passiert, ist wie aus einem Albtraum ausgeschnitten: Seine vermeintliche Verabredung wurde ermordet und er steht bald als Mörder da. Man verdächtigt ihn als Killer und verhaftet ihn. Zwar gelingt ihm schließlich die Flucht nach Paris, aber auch dort bleibt das Rätsel hinter den Geschehnissen bestehen. Wer hat das Komplott gegen ihn geschmiedet? Und vor allem: warum?
Die Antworten liegen bei einer Geheimorganisation – und tief in der Vergangenheit. Ein Massaker, das von Oradour-sur-Glane 1944, ist für die Mitglieder dieser Organisation noch nicht angemessen gesühnt worden. So nimmt die Geschichte über Schuld und Sühne ihren tragischen Verlauf und Tristan muss allmählich erkennen, wie tief er in die Wirren politischer Ereignisse verstrickt ist. Nicht nur durch die eigene Biographie lastet schwere Schuld auf ihm, sondern auch durch seinen familiären Hintergrund.
Franken und Frankreich
Christian Klier, 1970 in Nürnberg geboren, ist bekennender Frankreich-Liebhaber. Deshalb studierte er auch an der Sorbonne in Paris Ältere deutsche Sprache und Literatur sowie Neuere deutsche Literaturgeschichte und Galloromanische Philologie. Zusätzlich legte er das Staatsexamen für das gymnasiale Lehramt ab und unterrichtet seit einigen Jahren die Fächer Deutsch und Französisch.
Nach längerer Wanderschaft und vielen Aufenthalten in Frankreich lebt er nun wieder in Nürnberg. Klier, den man bislang vor allem als Franken-Krimi-Autor um seinen Hauptkommissar Klotz kannte, hat sich mit seinem neuen Roman in ein in jeder Hinsicht weiteres Feld begeben. Und das, was er bei der Lesung den Zuhörerinnen und Zuhörern bot, war feine literarische Kost. Dem sicherlich nicht einfachen Thema Vergangenheitsbewältigung begegnet er mit aufmerksamer Beobachtung – detailreich und sensibel reflektierend – und einer eindringlichen, differenzierenden Sprache.
Er hat ein Auge für die kleinen, nur scheinbar unwichtigen Dinge, so etwa bei seiner Schilderung des Massakers in Oradour-sur-Glane: beklemmend, weil wirklichkeitsnah.
Kliers Nachbemerkungen machten deutlich, dass er mit seinem Roman nicht nur unterhalten will, er sieht in seinem Protagonisten Tristan Novembre eben auch den Typus Mensch, der nichts versteht, weil er nichts weiß, Und er weiß nichts, weil er nichts verstehen will. Und das, so der Autor, sei einer der Gründe für menschliches Unheil.
Christian Kliers „Das ganze Jahr November“ ist spannend geschrieben und inhaltlich und sprachlich auf hohem Niveau. Man kann verstehen, warum ihm sein Verleger völlig freie Hand gelassen hatte. Er hat diese Freiheit auf überzeugende Weise genutzt. An diesem Abend war „Literatur“ im Riedner geboten.
Erich W. Spieß