Rafael Seligmann: Vor der Versöhnung steht die Aussprache

Offen im Kontakt mit dem Laufer Publikum: Rafael Seligmann, 1947 in Tel Aviv geboren, kehrte im Alter von zehn Jahren zurück nach Deutschland. Foto: Moritz
Offen im Kontakt mit dem Laufer Publikum: Rafael Seligmann, 1947 in Tel Aviv geboren, kehrte im Alter von zehn Jahren zurück nach Deutschland. Foto: Moritz2011/11/33174_rafaelseligmannliteraturtagelauf_New_1321262766.jpg

LAUF — Wie lebt es sich als deutscher Jude? Diese Frage umkreiste Rafael Seligmann bei seinem Auftritt im Rahmen der Laufer Literaturtage und gab auf viele Weisen und aus verschiedenen Blickwinkeln – auch mit Hilfe des engagiert mitdenkenden Publikums – Antworten.

Sehr offen und bedacht nimmt Seligmann von Anfang den Kontakt zu seinen Zuhörern auf. Er berichtet, erläutert und erzählt. Unter anderem, wie er 1983 in einem Buchladen nach deutsch-jüdischer Gegenwartsliteratur fragte und die Buchhändlerin ihm nach langem Überlegen das „Tagebuch der Anne Frank“ empfahl. Da wurde ihm klar, dass solche Literatur nicht existierte. Es gab einige in Deutschland lebende Juden, die wissenschaftliche Bücher schrieben, aber keinen, der in belletristischer Form seiner Seele einen Spiegel gab. Das Phänomen erklärte er sich so: In solchen Romanen hätte sich vermutlich auch einiges an Wut niedergeschlagen. Die potenziellen Autoren hatten offenbar Angst vor der Frage: Wenn du solchen Zorn hast, warum bist du dann nach Deutschland zurückgekommen?

Seligmann ist selbst ein solcher Zurückgekommener. 1947 wurde er als Sohn deutscher Einwanderer in Tel Aviv geboren. Als er zehn Jahre alt war, zog die Familie in die frühere Heimat des Vaters, nach München. Der Vater hatte ihm ins Gepäck den Satz gesteckt: Deutschland wird dir gefallen. Die Mutter: Das ist Nazi-, Mörder- und Antisemiten-Land.

Zwischen diesen Fronten wuchs er auf. Als Erwachsener war er zu der Einsicht gekommen: Es ist nicht leicht, das Kind Abels, also des Opfers, zu sein, aber es ist noch schwerer, das Kind Kains zu sein. Eh man sich versöhnt, muss man sich aussprechen. Man muss hören, was die Juden bedrückt, und man muss hören, was die Deutschen bedrückt.

So schrieb er den ersten deutsch-jüdischen Gegenwartsroman „Rubinsteins Vermächtnis“, der 1988 erschien. In den neunziger Jahren folgten drei weitere Romane, die viel gelesen, viel geschätzt, gelobt, aber auch abgelehnt wurden.

In seiner jüngsten Publikation „Deutschland wird dir gefallen“ beschreibt Seligmann die Entwicklungsstationen und Gefühlswelten eines nach Deutschland zurückgekehrten Juden auf nicht verfremdete Weise. Das Buch erzählt sein eigenes Leben. Es ist die Autobiografie eines Anfang-60-Jährigen, der nicht nur als Literat bekannt ist, sondern zudem als Verfasser politischer und historischer Sachbücher, Essays, Kommentare und Kolumnen, als Talkshow-Moderator und Intellektueller. Er hat sie „in so jungen Jahren“ verfasst, weil er sie bei klarem Kopf schreiben wollte, sprich ungeschönt, mit allen Fehlern, die er gemacht hat – und ohne Ghostwriter.

Die Kostprobe, die er vorliest, macht deutlich, wie in Seligmanns Schreiben Selbstironie, Witz und die Bloßlegung verletzender Denkmuster gleitend ineinander übergehen. Wo steckt der „Antisemitismus“? In einer Prügelei zwischen Schulbuben? In der Vermeidung des Wortes „Jude“? In der Überstülpung alter Klischees auf einen jüdischen Nachkriegs-Jungen?

Mit einer weiteren Kostprobe, dem Anfangsabschnitt seiner Autobiografie, zeigt der Autor, welches die Maximen sind, die er in seinem Denken und Handeln zu verbinden versucht. Er erzählt auf diesen ersten Buchseiten eine Begebenheit aus seiner Kindheit in Israel. Einem Nachbarmädchen hatte er die Grimmschen Märchen auf Hebräisch geliehen, ein Buch, das ihn begeisterte. Einige Zeit später fand er es zerrissen auf der Toilette der Nachbarwohnung als „Klopapier“. Dies erboste ihn unglaublich, und er dachte an das Wort seiner Lehrerin, dass sich ein Jude nach Auschwitz nie wieder ohnmächtig zeigen dürfe. Daher schlug er mit seinem Fuß so gewaltig gegen die nachbarliche Wohnungstür, dass dort eine Delle entstand. Sein Vater bestrafte ihn nicht, weil auch er der Meinung war, dass man Bücher nicht zerstören darf, er bezahlte aber anstandslos die Tür-Reparatur. Seine Begründung: Man soll ein Mensch bleiben, selbst wenn andere sich nicht benehmen können oder es nicht wollen. Zeit seines Lebens war er der Meinung, so Seligmann, dass sowohl seine Lehrerin als auch sein Vater recht hatten.

Im zweiten Teil des Abends entwickelte sich ein reges Gespräch zwischen Autor und Publikum. Dabei kristallisierten sich drei Punkte heraus, die Rafael Seligmann besonders am Herzen liegen: Dass niemand dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht. Dass die deutsch-jüdische Geschichte als Teil der deutschen Kultur anerkannt wird. Und dass sich die Menschen klarmachen, dass alle Menschen etwas unterscheidet, aber jeder Mensch auch mit dem anderen etwas gemeinsam hat.

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