HERSBRUCK – Die am weitesten entfernte Teilnehmerin hatte ihren Beitrag aus Neuseeland eingereicht, die jüngste Haiku-Dichterin war eine dreizehnjährige Schülerin. Selma Rüger war als Einzige dem Aufruf der Leiterin der Schreibwerkstatt, Ellinor Blaurock-Busch, an den Hersbrucker Schulen gefolgt und erwies sich gleich als Talent des Metiers.
„Maikäfer fliegen/ Der Wind pfeift durch die Bäume/ trägt sie mit herum“ – mit ihrem Haiku-Erstling befolgte Selma Rüger gleich die wichtigsten Regeln der aus Japan stammenden Gedichtform: drei Zeilen soll so ein Mini-Epos lang sein, wobei die erste Zeile 5 Silben, die zweite Zeile 7 Silben und die dritte Zeile wieder 5 Silben umfasst. Die Natur ist der Inhalt des traditionellen Haiku, die Sprache möchte die Sinne ansprechen, die Worte sollen nicht jedes Geheimnis preisgeben.
Regeln über Bord
Das häufig zitierte „Ur-Haiku“ des japanischen Dichters Matsuo Basho ( 1644 -1694) verkörpert dieses Ideal: „Alter Teich/ Ein Frosch springt ein/ Der Klang des Wassers“. Doch die Teilnehmer der Haiku-Challenge, die von Ellinor Blaurock-Busch ausgerufen worden war, mussten nicht zwingend der Urform folgen. Im Sinne des Dichters der Beat-Generation und leidenschaftlichen Haiku-Schreibers, Jack Kerouac, durften sie Regeln über Bord werfen. Das führte auch – meist ohne dass die experimentierfreudigen Dichterlehrlinge sich dessen bewusst waren – zur Dichtform des Senryu. Dieses gleicht in der äußeren Form dem Haiku, beinhaltet aber eher die menschliche Natur mit all ihren Emotionen und Konflikten. Klaus Thiemanns ironischer Dreizeiler „Graswurzel / Revolution / Jetzt schon?“ ging in diese Richtung.
Die Dichterlesung fand einmal mehr online statt. Das gab auch weit entfernten Teilnehmern die Chance, ihre Kurzwerke vorzulesen, zu erläutern und dem ebenso strengen wie ermunternden Blick der Dichterin Ellinor Blaurock-Busch auszusetzen. Denn, so die Lyrikerin:„In der Poesie zählt jedes Wort!“ Umso erfreulicher das Haiku des Lübeckers Klaus Köln: „Im Mai/ summt der Apfelbaum/ nach Honig“. Es erfüllte im engsten Sinne zwar nicht die geforderte Silbenzahl, dafür die Anforderung, ein „Bild im Kopf“ zu malen. Das gelang auch Gabriele Diewald mit „Tiefgründig gelbflammend/ Taraxacum Löwenzahn/ Schwebt sich frei zuletzt“.
Sommer im Kopf
Als seltsam befriedigend stellten sich die Siebzehn-Silber heraus, offenbar bereits beim Schreiben, aber auch für die Zuhörer. Vielleicht, weil in den wenigen Worten so viel Weltanschauung und Atmosphäre im wahrsten Sinne des Wortes „verdichtet“ wird. Doch halt: Gedichtet wird im Haiku ausdrücklich nicht!
Die Haiku-Challenge erwies sich als perfekte Lockdown-Therapie. Vom „morgendlichen Erguss“ bis zum Ringen um jede Silbe war alles vertreten und so wurden Preise für Originalität, die beste Annäherung an Jack Kerouac und schöne Bilder verliehen. Die Schülerin Selma Rüger, die für ihr traditionelles Haiku und das Vorlesen viel Lob erhielt, fand den Prozess des Dichtens gar nicht so mühsam. „Ich hatte dabei Sommer im Kopf“, erzählte sie. Wenigstens dort.