HERSBRUCKER SCHWEIZ – Auf den ersten Blick scheint Wählen so einfach: rein in die Kabine, Liste durchlesen, Kreuzchen setzen, falten und Wahlzettel einwerfen. Doch was, wenn man nichts sieht? Wie wählen die rund 80 000 blinden und sehbehinderten Menschen in Bayern, damit das Grundrecht auf eine geheime Wahl gewahrt bleibt?
Gar nicht, würde da Hildegard Lenz sagen. Sie ist seit ihrer Erblindung nicht mehr wählen gegangen: „Ich bin verunsichert, wenn jemand mit in die Kabine geht. Macht er wirklich da das Kreuzchen, wo ich es will? Dabei ist es Blinden und Sehbehinderten erlaubt, sich einen Helfer für die Wahlkabine wie auch für die Briefwahl Zuhause dazuzuholen, erklärt Jürgen Thoma vom Landratsamt Nürnberger Land: „Er darf dabei nur die technische Hilfe übernehmen“ – und eben nicht für den Wähler entscheiden.
„Aber man soll da und will da ja nicht so lange bleiben in der Wahlkabine“, sagt Lenz. Auch statt eines Helfers das Vorlesegerät mitzunehmen, ist keine Option, dann höre ja jeder zu und der Grundsatz der geheimen Wahl – für sie eine intime Sache – wäre dahin. „Man kommt sich richtig behindert vor“, beschreibt sie ihre Empfindungen.
Vielleicht wäre da die Briefwahl einfacher wegen der „ruhigeren Atmosphäre“, überlegt Thoma, aber Statistiken, ob Sehbehinderte eher diesen Weg wählen, gibt es nicht. Ganz ohne Hürden geht das aber auch nicht, erzählt Lenz: „Man braucht ja jemanden zum Vorlesen dafür.“ Zwar hat sie ein Vorlesegerät, doch das spricht mit eintöniger Computerstimme und liest jeden Punkt und jedes Komma vor. Das dauert. „Da bekommt man leicht mal etwas Wichtiges nicht mit.“
Paul Brunner kann Lenz verstehen, appelliert aber an Personen wie sie, sich einen „Schubs zu geben“. Der blinde Schwaiger hat immer gewählt, ist selbst politisch aktiv und engagiert sich im bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund. „Wenn eine Vertrauensperson, die das Kreuzchen an Eidesstatt für einen leistet, es nicht wie gewünscht setzt, ist das ein grober Rechtsverstoß.“
Helfen könnten da so genannte Wahlschablonen, die jedoch nur bei Bundestags- und Europaparlamentswahlen zum Einsatz kommen können. „Da sind die Stimmzettel überschaubar“, begründet Brunner. Denn die Wahlzettel werden in robuste Pappschablonen eingelegt. Dort, wo die Kreuzchen hinsollen, ist eine Aussparung. Daneben steht eine Nummer in Blindenschrift. „Es sind eine Legende und eine Begleit-CD, auf der die Kandidaten vorgelesen werden, nötig“, führt er aus. Für die Landtags- und Bezirkstagswahlen mit großen Unterlagen, zwei Stimmen und unterschiedlichen Stimmzettelkombinationen sei das aber nicht umsetzbar, ergänzt Thoma.
Aber dann kann hier das Grundrecht der geheimen Wahl nicht eingehalten werden – wie wäre das möglich? Brunner kann sich vorstellen, dass es eine Lösung wäre, mittelfristig in zentralen Ortschaften einen Wahl-PC mit „guter Sprachausgabe“ bereit zu stellen. „Der könnte dann die Liste vorlesen und man könnte dort stoppen und ein Kreuz setzen lassen, wo man es möchte.“
Neuer Mut?
Laut Jürgen Thoma sei auch im Sozialministerium das Bewusstsein vorhanden, Lösungen zu schaffen. Eine Idee wäre, barrierefrei die Wahlkreisvorschläge anzubieten, so dass man sich „mit den Kandidaten vertraut machen könne“.
Diese Dinge würden Hildegard Lenz ermutigen, wählen zu gehen, denn eigentlich will sie das schon: „Weil wenn man seine Stimme nicht abgibt, dann haben dadurch andere vielleicht mehr Chancen, ohne dass man das will.“